Geowissen

Abrupte Umleitung fürs Schmelzwasser

Klimawandel verursacht einzigartigen Fall von geologischer "Wasserpiraterie"

Die Wassermassen des tauenden Kaskawulsh Gletschers in Kanada fließen seit Frühjahr 2016 nach Süden statt nach Norden. © Dan Shugar

Dramatischer Routenwechsel: Das Schmelzwasser eines der größten Gletscher Kanadas hat sich einen neuen Weg gebahnt – und dies so dramatisch und abrupt wie nie zuvor beobachtet. Statt in die Beringsee strömt das Wasser seit Frühjahr 2016 tausende Kilometer weiter südlich in den Pazifik. Die Ursache für dieses in der Neuzeit einzigartige Ereignis ist das starke Abtauen des Kaskawulsh-Gletschers durch den Klimawandel, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Geoscience“ berichten.

Dass sich das Wasser eines Flusses, Sees oder Gletschers einen neuen Weg bahnt, ist nichts Neues: Vor allem am Ende der letzten Eiszeit blockierten Geröll und Sedimente häufig alte Abflüsse und schufen Umleitungen in neue Fluss-Einzugsgebiete. Geologen bezeichnen dies als „river piracy“, weil ein Fluss dem anderen sozusagen das Wasser stiehlt.

„Doch solche früheren Fälle von Flusspiraterie ereigneten sich im Verlauf des Eiszeitalters oder sogar über längere Zeiträume“, erklären Daniel Shugar von der University of Washington in Tacoma und seine Kollegen. „In der modernen Zeit jedoch hat unseres Wissens nach noch niemand dieses Phänomen beobachtet.“

Drastischer Routenwechsel

Bis jetzt. Denn im Frühjahr 2016 haben die Forscher erstmals eine drastische Umleitung großer Wassermassen nicht nur mitverfolgt – dieser Wechsel des Wasserlaufs geschah auch überraschend abrupt und rapide. Mittels Drohnen, Hubschrauberflügen und Satellitenaufnahmen beobachteten Shugar und seine Kollegen, wie sich das Schmelzwasser des Kaskawulsh Glacier – einem der größten Gletscher im kanadischen Yukon Territorium – einen neuen Weg bahnte.

Das Schmelzwasser dieses Gletschers strömte bisher über den Sims River und den Yukon nach Norden und mündete in der arktischen Beringsee. Doch im Frühjahr 2016 änderte sich dies abrupt: Eine besonders warme Klimaperiode ließ den Gletscher schneller abtauen als zuvor. „Die Temperaturen zwischen Januar und April 2016 lagen um 3,6 Grad höher als das dekadische Mittel für diese Zeit“, berichten die Forscher.

Dieser von hohen Eiswänden gesäumte Canyon blockierte den Ablauf des Schmelzwassers auf dem bisherigen Weg und leitet seither das Wasser nach Süden um. © Jim Best

Eiscanyon als Blockade

Die Folge: Das rapide Abtauen des Gletschers verursachte einen starken Schmelzwasserstrom, der am Fuß des Eisriesen einen tiefen Canyon mit hochaufgetürmten Wänden schuf. Dieser blockierte den bisherigen Abfluss nach Norden hin und lenkte das Wasser stattdessen nach Süden, wie die Wissenschaftler berichten.

Über den Kaskawulsh Lake und den Alsek River strömt das Schmelzwasser seither im Golf von Alaska in den Pazifik – tausende von Kilometer von seinem ursprünglichen Einstrom in die Beringsee entfernt. „Wir glauben, dass dieser Wechsel dauerhaft ist“, sagen die Forscher. „Denn nur ein erneutes Wachsen des Kaskawulsh Glacier könnte den neuen Kanal wieder blockieren – aber das ist angesichts der aktuellen Klimatrends sehr unwahrscheinlich.“

Der Klimawandel ist schuld

Dass dieses für die Neuzeit einmalige Ereignis gerade jetzt passiert, ist nach Ansicht der Forscher kein Zufall: „Wir schließen aus unseren Analysen, dass dieser Fall der Wasserpiraterie auf den postindustriellen Klimawandel zurückzuführen ist“, konstatieren die Wissenschaftler. Die schnelle Erwärmung und das Abtauen der Gletscher lässt wie im Zeitraffer geologische Prozesse ablaufen, die es auch am Ende der letzten Eiszeit gab.

Doch was damals über lange Zeiträume geschah, passierte am Kaskawulsh Gletscher in wenigen Wochen – und könnte auch in anderen Gletschergebieten der Erde jederzeit vorkommen. „Dieses Ereignis unterstreicht die Konsequenzen des klimabedingten Gletscherrückzugs“, konstatieren Shugar und seine Kollegen.

Solche Fälle von "Wasserpiraterie" sind vom Ende der Eiszeit bekannt, in der Neuzeit jedoch ist dies das erste und abrupteste Beispiel. © Dan Shugar

Folgen auch für viele Ballungsräume

Das Bedenkliche daran: Die Folgen solcher abrupten Umleitungen großer Wassermassen gehen weit über die Landschaft und bloße Geologie hinaus. Denn in vielen Regionen sind Millionen von Menschen und ganze Ballungsräume von gletschergespeisten Flüssen und deren Wasser abhängig. Bleibt dieses Wasser plötzlich aus, weil es am Gletscherfuß umgeleitet wurde, sitzen sie buchstäblich auf dem Trockenen.

„Dies kann schwerwiegende Folgen für die Ökosysteme, aber auch für das Funktionieren der wirtschaftlichen Infrastruktur haben, beispielsweise die Trinkwasserversorgung oder die Stromerzeugung durch Wasserkraft“, erklären die Forscher.

In einem begleitenden Kommentar warnt auch Rachel Headley von der University of Wisconsin-Parkside vor den potenziell weitreichenden Folgen solcher Abfluss-Wechsel: „Angesichts der sich erwärmenden Welt und der schmelzenden Gletscher müssen sich die Populationen, die vom Schmelzwasser abhängig sind, auf solche Ereignisse vorbereiten.“ (Nature Geoscience, 2017; doi: 10.1038/ngeo2932)

(Nature, 18.04.2017 – NPO)

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

News des Tages

Diaschauen zum Thema

Dossiers zum Thema

Die große Flut - Forscher enträtseln die Urzeit-Katastrophe am Mittelmeer

Gletscherseen - Imposante Naturphänomene oder tickende Zeitbomben?

Bücher zum Thema

Wasser - von Bernhard Edmaier und Angelika Jung-Hüttl

Landschaftsformen - Unsere Erde im Wandel - den gestaltenden Kräften auf der Spur von Karsten Schwanke, Nadja Podbregar, Dieter Lohmann und Harald Frater

Wetter, Klima und Klimawandel - Wissen für eine Welt im Umbruch von Nadja Podbregar, Harald Frater und Karsten Schwanke

Landschaften der Erde - unter dem Einfluss des Menschen von Hans-Rudolf Bork

Top-Clicks der Woche