Riss im Eis: In der Antarktis steht offenbar wieder ein großer Eisabbruch bevor. Im Brunt-Schelfeis bewegen sich zwei mehr als 50 Kilometer lange Risse immer weiter aufeinander zu. Wenn sie sich treffen, könnte die Hälfte des Schelfeises als Riesen-Eisberg abbrechen – er wäre doppelt so groß wie New York City. Ursache dieses Bruchs ist jedoch höchstwahrscheinlich nicht die Erwärmung des Meeres, sondern ein natürlicher Prozess, wie die Forscher erklären.
Die großen Schelfeise der Antarktis sind wichtige Bremser für den Gletscherstrom ins Meer. Gleichzeitig jedoch sind diese schwimmenden Eisflächen die größte Quelle antarktischer Eisberge – und viele von ihnen sind durch warmes Tiefenwasser bereits ausgedünnt. Erst 2017 brach vom Larsen-C-Schelfeis ein 5.800 Quadratkilometer großes Stück ab – einer der größten jemals beobachteten Eisberge. Und auch die Zunge des Pine-Island-Gletschers zeigt bereits einen ausgedehnten Riss.
Abbrüche und Wachstum im Wechsel
Jetzt könnte ein weiteres Schelfeis durch einen Eisabbruch stark schrumpfen: das Brunt-Eisschelf. Diese Eisfläche im östlichen Wedellmeer ist bisher dem warmen Tiefenwasser kaum ausgesetzt und scheint bisher einem weitgehend natürlichen Kalbungsrhythmus zu folgen. „Das Brunt-Schelfeis repräsentiert damit eine einzigartige Chance, großräumige Kalbungsprozesse in relativer Isolation zu untersuchen“, erklären Jan de Rydt von der Northumbria University und seine Kollegen.
Zuletzt brach in den 1970er Jahren ein großes Stück des Schelfeises ab. Aber auch schon vorher gab es immer wieder große Eisberge-Abbrüche: „Von den Polarforschern Shackleton und Wordie im Jahr 1915 gezeichnete Karten zeigen, dass das Brunt-Schelfeis damals sehr ausgedehnt war“, so die Forscher. „Als dann jedoch die britische Polarstation Halley in den 1950ern dort aufgebaut wurde, war das Schelfeis bereits viel kleiner – demnach muss schon nach 1915 ein großer Teil abgebrochen sein.“
Zwei lange Risse im Eis
Seither hat sich das Brunt-Schelfeis wieder erholt und fast die Ausdehnung wie vor den Eisabbrüchen der Vergangenheit – noch. Denn wie sich nun zeigt, könnte der nächste große Bruch unmittelbar bevorstehen. Bereits im Jahr 2012 bildete sich ein erster großer Riss am Westrand der Eisfläche. 2016 entstand an der Ostseite ein zweiter Riss, der um bis zu 800 Meter pro Tag länger wurde, wie die Forscher berichten.
Weil der der erste Riss, Chasm 1 genannt, der britischen Halley-Polarstation gefährlich nahe kam, wurde sie 2016 auf eine neue Position geschleppt. Seit 2017 bleibt die Station zudem im Winter unbemannt und geschlossen. Inzwischen sind beide Risse jedoch weiter gewachsen und haben jeweils eine Länge von 50 Kilometern erreicht. Schon jetzt hat sich dadurch das Tempo des Eisabflusses vom Ufer ins Meer um rund zehn Prozent erhöht, wie de Rydt und sein Team berichten.
Ein Eisberg von der doppelten Größe New Yorks
Jetzt könnte der Eisabbruch unmittelbar bevorstehen: Schon in wenigen Monaten könnten sich die Risse treffen und das Schelfeis zerteilen. „Dies könnte die Fläche des Schelfeises um mehr als 50 Prozent verkleinern – es wäre die schwerwiegendste je dokumentierte Veränderung der Eisschelf-Geometrie“, sagen de Rydt und seine Kollegen. Wenn das Brunt-Schelfeis bricht, wird es eine Eisfläche von rund 1.500 Quadratkilometern verlieren – das entspricht der doppelten Größe von New York City.
Der gewaltige, rund 150 Meter dicke Tafeleisberg wird dann langsam vom restlichen Schelfeis wegdriften. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass die großen Eisberge der Antarktis auf vier „Autobahnen“ nach Norden driften. „Wenn der Eisberg sich einmal vom Schelfeis gelöst hat, wird er wahrscheinlich nach Westen treiben und dann in kleinere Eisberge zerfallen“, erklärt de Rydt.
Spannungen im Eis
Was aber ist der Grund für die Risse im Brunt-Schelfeis? Um das herauszufinden, haben die Forscher Satellitendaten zu Richtung und Tempo des Eisflusses im Schelfeis mit Daten aus Feldmessungen kombiniert und ausgewertet. Dadurch konnten sie ein Modell konstruieren, dass die Entwicklung der Spannungen und der Geometrie der Eisfläche zeigt.
Dabei zeigte sich: Die Risse im Eis sind offenbar die Folge von ungleich verteilten Spannungen innerhalb der Eisfläche. Demnach konzentrieren sich starke Stresszonen vor allem rund um eine vorgelagerte Sandbank, die McDonald Ice Rumples, wie die Forscher berichten. Dort liegt die Eisbasis auf diesem Hindernis auf. Weil vom Land her langsam, aber stetig Eis nachströmte, staute sich das Eis und der Druck wuchs. Er entlud sich dann in Form der beiden Risse.
Klimawandel wahrscheinlich unschuldig
„Wir wissen, dass der Klimawandel ein ernstes Problem mit weltweiten Auswirkungen ist – vor allem in der Antarktis“, sagt de Rydts Kollege Hilmar Gudmundsson. „Aber unsere Daten geben keine Hinweise darauf, dass dieses spezielle Ereignis mit dem Klimawandel zusammenhängt.“ Stattdessen könnte der kommende Eisabbruch Teil des ganz normalen Kalbungszyklus des Brunt-Schelfeises sein. (The Cryosphere, 2019; doi: 10.5194/tc-2019-46)
Quelle: Northumbria University