Vorgeschmack auf die Zukunft: Der Westen Alaskas zeigt schon jetzt, was der Arktis in den kommenden Jahrzehnten droht. Denn dort ist der Permafrost durch einen extrem warmen Winter und starken Schneefall rasant aufgetaut. Als Folge sind innerhalb weniger Wochen 192 Schmelzwasserseen ausgelaufen – zehnmal so viel wie normal. Gleichzeitig entsprachen die Klimabedingungen denen, die von Modellen erst für 2060 vorhergesagt sind.
Die Arktis heizt sich durch den Klimawandel überproportional stark und schnell auf – das zeigt sich auch am arktischen Permafrost: Weil der gefrorene Boden taut, sacken Straßen, Gebäude und andere Infrastruktur ab, Hänge kommen ins Rutschen und die Erosion nimmt rasant zu. Gleichzeitig setzt der tauende Permafrostboden große Mengen an Treibhausgasen frei, die die globale Erwärmung weiter antreiben.
Schmelze macht Seen instabil
Ein weiteres Symptom des arktischen Wandels haben nun Ingmar Nitze vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) und seine Kollegen in den Westen Alaskas beobachtet. Dort, auf der Seward-Halbinsel südlich der Stadt Kotzebue, ist der Permafrost mit hunderten Schmelzwasserseen übersät. Diese sogenannten Thermokarst-Seen bilden sich in den Senken des Permafrosts und sind teilweise mehrere tausend Jahre alt.
In jüngster Zeit jedoch kommt es vermehrt zum Auslaufen dieser flachen arktischen Gewässer. Denn durch die milderen Temperaturen friert der Untergrund selbst im Winter nicht mehr vollständig durch. Dadurch werden die Ränder der Seen instabil und halten dem Druck des zunehmenden Schmelzwassers nicht mehr stand. Um diese Entwicklung zu verfolgen, haben Nitze und sein Team Satellitenbilder und Klimadaten der Seward-Halbinsel von 1999 bis 2018 ausgewertet.
Zehnmal mehr Auslauf-Ereignisse als normal
Das Ergebnis: In der Saison 2017/2018 liefen allein in der Region um Kotzebue 192 Thermokarst-Seen aus – das sei so viel wie nie zuvor innerhalb eines Jahres beobachtet, berichten die Forscher. Das Gebiet verlor auf einen Schlag vier Prozent seiner Seenfläche. Das Ausmaß der Seenerosion liege damit um das Zehnfache über dem Durchschnitt und doppelt so hoch wie nach dem außergewöhnlich warmen Winter 2005/2006.
„Die massive Auslaufen der Seen im Frühsommer 2018 war ein Extremereignis, das alle seit Beginn der Satellitenaufzeichnungen beobachteten Drainage-Ereignisse in dieser Region weit in den Schatten stellt“, konstatieren die Wissenschaftler. Das hohe Niveau der Permafrost-Degradierung verdeutliche die Anfälligkeit dieser Landschaft.
Wetterbedingungen wie im Jahr 2060
Ursache dieser extremen Veränderungen der Tundra-Landschaft war der ungewöhnlich warme Winter 2017/2018: „Dieser Winter war der wärmste, nasseste und zweitschneereichste seit Beginn der Aufzeichnungen“, berichten Nitze und seine Kollegen. „An mehreren Tagen lagen die Lufttemperaturen nahe Null Grad – das sind 15 bis 20 Grad mehr als es dem klimatologischen Mittel entspricht.“ Als Folge fror der im Sommer angetaute Permafrost auch während des Winters nicht ausreichend und die Seen wurden instabil.
Das Problem dabei: Noch ist dieser Winter möglicherweise eher eine Ausnahme als die Regel. Doch die Bedingungen, die zu diesem warmen, feuchten Wetter führten, häufen sich immer mehr. Dazu gehört unter anderem der drastische Meereisverlust in den angrenzenden Gebieten des Nordpolarmeeres wie der Bering- und Tschuktschensee.
Hinzu kommt: Diese Region der Arktis hat im Jahr 2018 bereits Bedingungen erreicht, die Klimamodelle erst für die Zeit ab 2060 und für das Worst-Case-Szenario des Weltklimarats IPCC vorhersagen. „Wir konnten gewissermaßen in die Zukunft sehen“, sagt Nitze. „Dieses Auslauf-Ereignis zeigt, welche extremen Ausmaße die Erwärmung in der Arktis in den kommenden Jahrzehnten annehmen wird.“
Permafrost degradiert schneller als erwartet
Gleichzeitig bestätigen die Beobachtungen auch andere Hinweise darauf, dass die Erwärmung der Arktis schneller voranschreiten könnte als bislang angenommen. „Die Diskrepanz zu den Modellen spricht dafür, dass die lokalen und regionalen Permafrost-Landschaften weit schwerer und früher von der Erwärmung betroffen sein könnten, als es die Modelle vorhersagen“, konstatieren die Wissenschaftler.
Das sei bedenklich, weil durch dieses rapide Abtauen das im Permafrostboden konservierte organische Material verstärkt abgebaut und in potente Treibhausgase wie Methan, Lachgas und Kohlendioxid umgewandelt wird. Diese verstärken dann ihrerseits den Treibhauseffekt und heizen das Klima noch stärker an – ein Teufelskreis. (The Cryosphere, 2020; doi: 10.5194/tc-14-4279-2020)
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung