Überraschende Entdeckung: Das Schmelzwasser von Gletschern kann wie ein natürlicher CO2-Schlucker wirken – und dies erstaunlich effektiv. Denn die im Gletscherwasser gelösten Mineralien binden durch ihre Verwitterung viel CO2 und entziehen das Treibhausgas dadurch der Luft, wie Forscher ermittelt haben. Einige Schmelzwasserflüsse in der kanadischen Arktis binden sogar doppelt so viel CO2 pro Tag und Fläche wie der Amazonas-Regenwald.
Die meisten Flüsse, Seen und vor allem Stauseen setzen mehr CO2 frei als sie aufnehmen. Ursache dafür ist ein hoher Gehalt an organischer Substanz und verrottendem Pflanzenmaterial. Schätzungen zufolge entspricht die CO2-Emission der weltweiten Binnengewässer etwa rund zehn Prozent des CO2-Ausstoßes durch fossile Brennstoffe.
Verwitterung bindet CO2
Doch es gibt auch Gewässer, die extrem nährstoffarm sind und deren Wasser eher eine mineralische als organische Fracht trägt: Schmelzwasserflüsse und -seen. Welche Rolle sie für den CO2-Kreislauf spielen und ob sie eher Senken oder Emittenten sind, blieb bisher allerdings unklar: „Gletschergespeiste Flüsse und Seen wurden bisher bei der Untersuchung des CO2-Kreislaufs weitgehend übersehen“, konstatieren Kyra St. Pierre von der University of Alberta in Edmonton und ihre Kollegen.
Zu Unrecht, wie sich nun zeigt. Denn im Schmelzwasser findet ein chemischer Prozess statt, der CO2 höchst effektiv binden kann: „Gletschergespeiste Gewässer transportieren nur wenig organischen Kohlenstoff und dafür große Mengen an frisch erodierten und reaktiven Sedimenten, die anfällig für eine schnelle chemische Verwitterung sind“, erklären die Forscher. Bei der Verwitterung reagieren Verbindungen wie Calciumcarbonate oder calciumhaltige Silikate mit CO2 zu gelöstem Calcium, Kohlensäure und weiteren Verbindungen.
Hocharktischer See als Testgebiet
Wie effektiv diese Verwitterung in Schmelzwasserflüssen abläuft und was dies für die CO2-Aufnahme bedeutet, haben St. Pierre und ihr Team nun bei den Zuflüssen des Lake Hazen im Norden der kanadischen Ellesmere-Insel untersucht. Dieser rund 544 Quadratkilometer große See wird von elf Gletscherflüssen gespeist. Aus sieben davon und dem See selbst entnahmen die Forscher während eines Sommers Wasserproben und analysierten sie.
Das überraschende Ergebnis: Der CO2-Gehalt im Wasser dieser Flüsse lag deutlich unter dem normalen CO2-Gleichgewicht mit der Luft. Die CO2-Sättigung des Wassers sank mit steigendem Abstand vom Ursprungs-Gletscher zunehmend ab, wie die Forscher berichten. Aus Messungen der Kohlenstoffisotope im Wasser schließen sie, dass dieser CO2-Schwund auf die chemische Verwitterung von Mineralen zurückgehen muss.
Höhere CO2-Aufnahme als der Amazonas
Das Spannende daran: „Während die Verwitterungs-Reaktionen in den Flüssen ablaufen, wird ständig CO2 aus der Luft nachgeliefert“, so St. Pierre und ihr Team. Dadurch entziehen diese Schmelzwasser-Flüsse der Atmosphäre erhebliche Mengen dieses Klimagases und binden es in Form von gelöstem anorganischem Kohlenstoff, Ionen und Siliziumverbindungen.
Allein die Gletscherflüsse im Einzugsgebiet des Lake Hazen schlucken dadurch pro Jahr gut tausend Tonnen Kohlenstoff in Form von CO2, wie die Forscher ermittelten. Auf die Fläche umgerechnet nahm das Lake-Hazen-Gebiet im Jahr 2015 sogar doppelt so viel Kohlenstoff pro Quadratmeter und Tag auf als der Amazonas-Regenwald. „Die maximalen Tagesraten waren mit bis zu sechs Gramm CO2-Kohlenstoff pro Quadratmeter sogar bis zu 40 Mal höher als beim Amazonas“, berichten die Wissenschaftler.
„Zuvor übersehene CO2-Senke“
„Das macht die Gletscherflüsse zu einer wichtigen und zuvor übersehenen CO2-Senke“, konstatieren St. Pierre und ihr Team. Zumindest auf regionaler Ebene könnte die Aufnahme von atmosphärischem CO2 durch solche Flüsse den Kohlenstoff-Haushalt messbar beeinflussen. „Da viele Flüsse weltweit an Gletschern entspringen, hat dies eine potenziell große Bedeutung“, so die Forscher. Sie gehen davon aus, dass diese Schmelzwasser-Senke auch in anderen Regionen der Arktis und des Hochgebirges vorhanden ist.
Ihre Messungen zeigen allerdings auch, dass die CO2-Aufnahme der Gletscherflüsse stark schwankt: In Zeiten mit viel Schmelzwasser und einem hohen Anteil von mitgeschwemmten Mineralen ist sie höher als in Sommern mit eher wenig Schmelzwasser. Das aber bedeutet: Zumindest in naher Zukunft könnte diese arktische CO2-Senke noch stärker wirksam werden. „Den Prognosen nach wird der Schmelzwasserfluss in den hohen Breiten noch bis mindestens zur Mitte dieses Jahrhunderts zunehmen“, erklären die Forscher.
Dann jedoch wird mit dem Verschwinden der Gletscher auch das Schmelzwasser aufhören zu fließen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2019; doi: 10.1073/pnas.1904241116)
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences