Die Wiege der höheren Primaten stand möglicherweise doch nicht in Afrika, wie bisher angenommen. Neue Fossilfunde in Zentral-Libyen könnten daraufhin deuten, dass die Vorfahren von Affen, Menschenaffen und Menschen erst vor 39 Millionen Jahren aus Asien nach Afrika einwanderten. Wie ein internationales Forscherteam jetzt in „Nature“ berichtet, lässt sich das so plötzliche Auftreten gleich mehrerer zeitgleich lebender verschiedener Primatenformen sonst kaum erklären.
Der Ursprung der Anthropoiden, der Primatengruppe, die Affen, Menschenaffen und Menschen umfasst, ist seit langem umstritten. Unklar sind dabei sowohl der Zeitpunkt als auch der Ort ihrer Entstehung. Während molekulare Methoden der Stammbaumforschung auf einen Ursprung in der Kreidezeit hindeuten, stammten die bisher ältesten Fossilfunde, entdeckt in Algerien und Ägypten, aus dem späten Eozän. Auf diesen Funden basierte auch die Annahme, dass die Vorfahren der höheren Primaten sich in Afrika entwickelt haben müssen. Allerdings wurden in jüngster Zeit auch in Asien sehr frühe Mitglieder der Anthropoiden entdeckt, die dies in Frage stellen.
Überraschend frühe und plötzliche Primatenvielfalt
Jetzt hat ein internationales Forscherteam um den Paläontologen Jean-Jacques Jaeger von der Universität von Poitiers in Frankreich eine Entdeckung gemacht, die die bisherigen Vorstellungen revolutionieren könnte. In der Dur At-Talah Formation in Zentral-Libyen stießen die Forscher auf gleich mehrere bisher unbekannte Arten von anthropoiden Tieren aus dem mittleren Eozän. Die rund 38 bis 39 Millionen Jahre alten Fossilien gehören drei deutlich voneinander verschiedenen Gruppen an. Sie müssen sich daher schon überraschend früh in so unterschiedliche Formen differenziert haben.
Fossillücke oder Einwanderung?
Nach Ansicht der Wissenschaftler gibt es für das plötzliche Auftauchen einer bereits so vielfältigen Verwandtschaftsgruppe in der afrikanischen Fossilienwelt nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder sind alle Vorstufen dieser Entwicklung durch eine Lücke in den Fossilienfunden verloren gegangen. Das aber erscheint Jaeger und Co. unwahrscheinlich, weil gerade die nordafrikanischen Formationen aus dem Eozän in den letzten Jahrzenten sehr gut untersucht worden sind.
Stattdessen halten die Forscher es für wahrscheinlich, dass vor rund 39 Millionen Jahren gleich mehrere Anthropoidenarten gemeinsam mit Nagetieren und anderen Säugetieren den afrikanischen Kontinent von woanders her besiedelten. Dies würde die vollständige Abwesenheit jeglicher Anthropoidenfosillien vor diesem Zeitpunkt in Afrika am besten erklären. Da auch in Asien bereits Fossilien früher Anthropoiden entdeckt worden sind, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass sich dort die allmähliche Ausbildung der verschiedenen Formen abspielte, von denen dann einige nach Afrika auswanderten.
Wiege der höheren Primaten in Asien?
„Wenn unsere Ideen korrekt sind, war diese frühe Kolonisierung Afrikas durch Anthropoiden ein wirklich entscheidendes Ereignis – einer der Schlüsselmomente unserer evolutionären Geschichte“, erklärt Christopher Beard, Kurator für Wirbeltierpaläontologie am Carnegie Museum of Natural History. „Zu dieser Zeit war Afrika ein Inselkontinent. Als diese Anthropoiden erschienen, gab es auf dieser Insel nichts, was mit ihnen konkurrieren konnte. Das führte zu einer Periode von blühender Diversifizierung unter ihnen und eine der dabei entstehenden Linien resultierte schließlich in dem Menschen. Wenn es unserem frühen anthropoiden Vorfahren nicht gelungen wäre, von Asien nach Afrika zu migrieren, würden wir einfach nicht existieren.“
Doch die Autoren betonen auch, dass nun weitere paläontologische Erkundungen von Formationen aus dem mittleren Eozän in Afrika, aber auch in Asien nötig sind, um diese wichtige, aber bisher kaum dokumentierte Periode der Primatenevolution besser zu verstehen.
(Carnegie Museum of Natural History / Nature, 28.10.2010 – NPO)