Rätselhafter Anachronismus: Auch als die Schrift längst erfunden war, nutzten die Assyrer offenbar primitive Schrift-Vorformen weiter. Das belegen jetzt überraschende Funde solcher simpler Tonmarken in neoassyrischen Ruinen in der Türkei. Diese wurden noch 2.000 Jahre nach Einführung der Keilschrift zur Verwaltung von Gütern eingesetzt, vermutlich, um den Handel mit Vieh und Getreide zu erleichtern.
Vor rund 6.000 Jahren existierte in Mesopotamien bereits eine Stadt mit mehreren zehntausend Einwohnern: Uruk. Um diese zu versorgen, war ein immenser Verwaltungsaufwand nötig, tausende von Arbeiten mussten koordiniert, verschiedenste Handelswaren bestellt, gehandelt und abgerechnet werden. Weil es noch keine Schrift gab, behalfen sich die mesopotamischen Beamten mit kleinen Tonmarkern, einer Art Zählsteinen, deren Form, Größe und Markierungen für bestimmten Waren oder Mengen standen.
Diese Tokens finden sich in Ausgrabungen bis etwa um 3.000 vor Christus. Dann aber breitete sich eine neue Erfindung im Zweistromland aus: die Keilschrift. Mit ihr wurde es erstmals möglich, Güter zu beschriften, Listen zu führen und Transaktionen nachhaltig zu dokumentieren. Von dieser Erfindung profitierten später auch die Assyrer, die bis etwa 600 vor Christus in Mesopotamien und Teilen Anatoliens herrschten. Für sie war Schrift selbstverständlicher Teil der Kultur. Die prähistorischen Tonmarken waren dagegen längst vergessen – so dachte man wenigstens bisher.
Überraschender Fund im Ruinenhügel
Ausgrabungen in dem Ruinenhügel von Ziyaret Tepe im Südosten der Türkei zeichnen nun ein anderes Bild. In diesem Hügel finden sich die Überreste der neuassyrischen Provinzhauptstadt Tuschan aus dem 9. bis 6. Jahrhundert vor Christus. John MacGinnis von der University of Cambridge in England und seine Kollegen untersuchten die Ruinen der Unterstadt, als sie einen überraschenden Fund machten:
In zwei Räumen eines Verwaltungsgebäudes stießen sie nicht nur auf zahlreiche Tontafeln, Siegel, und Gewichte, sondern auch auf mehr als 300 Tokens – einige in Form von simplen Kugeln oder Scheiben, andere dreieckig oder in stilisierter Stierkopfform. Datierungen zeigen, dass diese anachronistischen Verwaltungshilfen tatsächlich aus dem neuassyrischen Reich stammen – sie wurden demnach noch gut 2.000 Jahre nach Erfindung der Keilschrift hergestellt und offenbar intensiv genutzt, wie die Forscher berichten.
Zählmarken für die Warenausgabe
Zu welchem Zweck die Assyrer ihre Tokens einsetzten, ist bisher allerdings nicht klar. Die Forscher vermuten aber, dass sie als temporäre Zählmarken für Vieh oder Getreide dienten: Jeder Bauer oder Viehhändler brachte einen Beutel mit diesen Tokens mit, die seine Waren repräsentierten. Während des Verkaufs wurden die Zählmarken dann von einem Beamten zum nächsten weitergereicht, bis sie schließlich in einer Art Warenausgabe ankamen.
Hatte der Käufer seine Ware erhalten, wurden die Daten endgültig auf Schrifttafeln festgehalten, die Tokens hatten ihre Aufgabe erfüllt. „Die Tokens bildeten ein wiederverwendbares System, mit dem der Stand der Transaktionen modifiziert und aktualisiert werden konnte, ohne dafür Tontafeln zu verschwenden“, sagt MacGinnis.
Doppeltes System
Die Funde belegen, dass die Assyrer die prähistorischen Ton-Tokens und die Keilschrift parallel nutzten. Im neuassyrischen Reich war die Kombination von Tokens und Schrifttafeln vermutlich Teil eines reichsweiten Administrations-Systems, wie die Forscher erklären. Denn auch in einer des Schreibens mächtigen Gesellschaft könne es sinnvoll sein, Informationen über mehrere Kanäle aufzuzeichnen.
„Die Erfindung von Aufzeichnungssystemen sind Meilensteine der menschlichen Geschichte“, betont MacGinnis. Jeder Fund, der dazu beitrage, diese Meilensteine zu erhellen, sei daher eine wichtige Hilfe, den Fortschritt der Menschheit nachzuvollziehen. (Cambridge Archaeological Journal, 2014; doi: 10.1017/S0959774314000432)
(University of Cambridge, 14.07.2014 – NPO)