Extreme Ströme: Das Meereis der Arktis wird nicht nur die allgemeine Erwärmung dezimiert – auch atmosphärische Flüsse setzen ihm immer stärker zu, wie eine Studie enthüllt. Demnach erreichen diese riesigen Ströme feuchtwarmer Luft immer häufiger die Polargebiete und hemmen dort die winterliche Neubildung des Meereises. Allein in der Barentssee und der zentralen Arktis ist dieses Phänomen für gut ein Drittel des Meereisverlusts verantwortlich, wie Forschende in „Nature Climate Change“ berichten.
Sie sind tausende Kilometer lang, hunderte Kilometer breit und können tagelange sintflutartige Regenfälle verursachen: Vor allem im Winter entstehen über den tropischen Meeren manchmal atmosphärische Flüsse – schnelle Ströme aus wasserdampfgesättigter Luft, die bis in die mittleren und höheren Breiten reichen und dort gewaltige Wassermassen abregnen. Vor allem an der Westküste Nordamerikas sorgt dieses extreme Wetterphänomen immer wieder für verheerende Starkregen, Erdrutsche und Überschwemmungen.
Die Häufigkeit und Intensität solcher atmosphärischen Flüsse haben sich in den letzten Jahrzehnten erhöht, wie Studien zeigen. Klimaforscher gehen davon aus, dass die Erwärmung der Ozeane und Atmosphäre durch den Klimawandel zu dieser Zunahme beiträgt.
Phänomen wird auch in der Arktis häufiger
Doch dies betrifft nicht nur die mittleren Breiten, wie Pengfei Zhang von der Pennsylvania State University und seine Kollegen herausgefunden haben. Für ihre Studie haben sie untersucht, wie oft atmosphärische Flüsse bis in die zentrale und eurasische Arktis reichen, wie sich die Häufigkeit dieser Ereignisse seit 1979 verändert hat und welche Folgen dies für das arktische Meereis hat. Denn frühere Studien hatten bereits nahegelegt, dass sich die atmosphärischen Flüsse zunehmend weiter polwärts verschieben könnten.
Tatsächlich ergaben die Analysen: In den letzten gut 40 Jahren hat die Häufigkeit der atmosphärischen Flüsse über der zentralen Arktis und der Barents- und Karasee signifikant zugenommen. Ursache dieses Trends sind einerseits natürliche Schwankungen des tropischen Klimas, darunter die interdekadische Pazifische Oszillation, andererseits aber der menschengemachte Klimawandel: „Die Zunahme der atmosphärischen Flüsse passt zur steigenden Wasserspeicherkapazität der wärmer werdenden Atmosphäre“, erklären die Wissenschaftler.
Neubildung des Meereises gehemmt
Das Problem dabei: Diese gewaltige Ströme feuchtwarmer Luft erreichen die Polarregion vor allem im Winter und damit zu der Zeit, in der im Arktischen Meer neues Meereis entsteht. Dadurch stören die atmosphärischen Flüsse den Eisnachschub erheblich: Der von ihnen mitgebrachte Regen und die Treibhauswirkung dieser enormen Wasserdampf-Ströme verhindern die Meereis-Neubildung, wie Zhang und sein Team ermittelten.
Während die Meereisfläche ohne einen atmosphärischen Fluss vor allem im November, Dezember und Januar rapide wächst, kommt dieses Wachstum während eines solchen Wasserdampfzustroms nahezu vollständig zum Erliegen, wie die Auswertungen ergaben. Dieser hemmende Effekt hält zudem bis zu zehn Tage nach Ende des Wetterphänomens an. „Der Meereis-Rückgang wird demnach nicht nur durch graduelle Einflüsse wie die Erwärmung verursacht, sondern auch durch solche episodischen Wetterereignisse“, sagt Koautorin L. Ruby Leung vom Pacific Northwest National Laboratory.
Für 34 Prozent des Meereisverlusts verantwortlich
Was das für das arktische Meereis insgesamt bedeutet, haben Zhang und sein Team ebenfalls ermittelt. Demnach ist die Zunahme der atmosphärischen Flüsse für rund 34 Prozent des gesamten winterlichen Meereis-Rückgangs in der Arktis verantwortlich. „Obwohl die Temperaturen in der Arktis noch unter dem Gefrierpunkt liegen, ist der Eisrückgang auch im Winter signifikant – unsere Ergebnisse zeigen, dass die atmosphärischen Flüsse eine Ursache dafür sind“, sagt Zhang.
Nach Ansicht der Forschenden demonstriert dies, dass der Einfluss des Klimawandels auf das arktische Meereis und die Arktis komplexer und weitreichender ist als vielfach angenommen. „Wenn diese Art von Feuchtigkeitstransports in der Arktis passiert, dann hat der atmosphärische Fluss nicht nur starke Regen- oder Schneefälle zur Folge, er hat auch eine stark auftauende Wirkung auf das Eis“, sagt Koautor Mingfang Ting von der Columbia University in New York.
Angesichts des rapiden Meereisverlusts der letzten Jahre und Jahrzehnte sei dies eine wichtige Erkenntnis. Hinzu kommt, dass es erste Hinweise auf eine ähnliche Häufung atmosphärischer Flüsse auch über Grönland und der Westantarktis gibt – auch dies sind polare Regionen mit einem besonders hohen Eisverlust. (Nature Climate Change, 2023; doi: 10.1038/s41558-023-01599-3)
Quelle: Pennsylvania State University