Unter dem Meereis der sibirischen Arktis hat ein internationales Forscherteam eine überraschend üppige Planktonblüte entdeckt. Viermal mehr einzellige Algen als im offenen Ozean fanden sie unter der bis zu 1,80 Meter dicken Eisdecke – obwohl das Wasser dort viel weniger Sonnenlicht erhielt als an eisfreien Stellen. Dieser Fund widerspricht gängigen Annahmen, denn bisher glaubte man, dass Algen in den dunklen, eisbedeckten Meeresbereichen kaum gedeihen können. Man habe offenbar stark unterschätzt, wie viel von diesem pflanzlichen Plankton unter dem Meereis existiere. Jetzt zeige sich, dass der arktische Ozean weitaus produktiver sei als gedacht, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Science“.
„Allein in unserem Studiengebiet ist die jährliche Primärproduktion um das Zehnfache unterschätzt worden“, schreiben Kevin Arrigo von der Stanford University und seine Kollegen. In anderen arktischen Meeresgebieten könne es ähnlich sein. Als Primärproduktion bezeichnen Biologen die Menge an Biomasse – also an Pflanzenmaterial, die Pflanzen durch Photosynthese erzeugen. In den Polarmeeren sind einzellige Algen die wichtigsten Biomasseproduzenten. Vor allem die sommerlichen Algenblüten sind die Nahrungsgrundlage für Krebse, Fische und andere Meerestiere.
Welche ökologische Bedeutung die neu entdeckten Planktonblüten unter dem Meereis haben und wie sich der Klimawandel auf sie auswirke, müsse nun genauer erforscht werden. „Das ist wichtig, wenn wir die biologische und biochemischen Veränderungen verstehen und vorhersagen wollen, die dem arktischen Ozean bevorstehen“, betonen Arrigo und seine Kollegen. Vor allem im Sommer nimmt die Meereisfläche durch die globale Erwärmung immer stärker ab. Damit schwindet auch der Lebensraum für die untereisischen Algen.
100 Kilometer weit ins Packeis hinein
Entdeckt hatten die Forscher die Algenblüte während einer Expedition im Sommer 2011. Dabei hatten sie vor der Küste der nordostsibirischen Tschuktschen-Halbinsel Wasserproben entlang zweier 250 Kilometer langer Messstrecken genommen. Die Entnahmestellen waren so angelegt, dass sie vom eisfreien Ozean bis ins Packeis hinein reichten. Unter dem frischen, einjährigen Meereis dieses Gebiets fanden sie die Algen. Das Eis war in diesen Bereichen zwischen 80 Zentimetern und 1,80 Metern dick. „Mehr als 100 Kilometer weit vom Eisrand in das Packeis hinein erstreckte sich die Blüte“, berichten die Forscher. Die höchste Dichte erreichten die Algen dabei nicht am Übergang zwischen freiem Wasser und Eis, sondern weit im Inneren der Packeisfläche.
Die Algen bekamen unter dem Eis unterschiedlich viel Licht, wie die Forscher berichten: Dort, wo das Eis schneefrei war, drang weniger Sonne bis ins Wasser durch als dort, wo beispielsweise Schmelzwassertümpel auf der Oberfläche der Eisflächen standen. Insgesamt mussten die pflanzlichen Einzeller unter der Eisdecke mit deutlich weniger als halb so viel Licht auskommen wie die Algen im offenen Wasser. Dennoch seien sie fast doppelt so schnell gewachsen, sagen Arrigo und seine Kollegen.
Warum, ist nicht klar. Möglicherweise spielen das Nährstoffangebot oder auch die Artenzusammensetzung eine Rolle. Denn unter dem Eis dominierten andere Algenarten als im offenen Meer. „80 Prozent von ihnen – und damit die überwältigende Mehrheit – gehörte zu freischwimmenden Kieselalgen der Gattungen Chaetoceros, Thalassiosira und Fragilariopsis“, berichten die Forscher. Noch bis in 50 Meter Tiefe sei das Wachstum dieser Algen relativ hoch gewesen. (doi:10.1126/science.1215065)
(Science, 08.06.2012 – NPO)