Landvermessung als praktische Mathematik: Schon die Babylonier nutzten das Prinzip der Pythagoreischen Tripel, um rechte Winkel abzumessen – lange bevor der antike Mathematiker Pythagoras diesen Lehrsatz niederschrieb. Den Beleg dafür liefert eine 3.700 Jahre alte Keilschrifttafel aus dem Iran. Auf ihr zeichnete ein babylonischer Landvermesser mithilfe dieses geometrischen Prinzips Grundstücksgrenzen ein, wie Archäologen berichten.
Den Lehrsatz des Pythagoras hat jeder in der Schule gelernt: In einem rechtwinkligen Dreieck entsprechen die Quadrate der beiden kurze Seitenlängen dem Quadrat der lange Seite – a2 + b2 = c2. Diese Dreier-Kombination von Seitenlängen, auch als Pythagoreisches Tripel bezeichnet, lässt sich auch dazu nutzen, über das resultierende Dreieck einen rechten Winkel zu konstruieren.
Proto-Trigonometrie im alten Babylon
Doch der griechische Mathematiker Pythagoras war nicht der erste, der dieses Prinzip nutzte: Im Jahr 2017 entdeckten Archäologen eine 3.700 Jahre alte Keilschrifttafel aus dem alten Babylon, auf der ganze Reihen solcher Tripel niedergeschrieben waren. „Die Babylonier entwickelten demnach ihre eigene Form der Proto-Trigonometrie“, erklärt Daniel Mansfield von der University of New South Wales in Sydney. „Die Tafel beschreibt einen ganzen Zoo von rechtwinkligen Dreiecken unterschiedlicher Form.“ Wozu die Babylonier diese Dreiecke jedoch brauchten, blieb unklar.
Jetzt klärt eine weitere Keilschrifttafel diese Frage. Die schon 1894 in der Nähe von Bagdad gefundene Tontafel Si.427 stammt aus der Zeit von 1900 bis 1600 vor Christus. Bevor Mansfield sie näher untersuchte, lag sie seit 125 Jahren unbeachtet in einem Museum in Istanbul. Die näheren Analysen der Schriftzeichen und Linien ergaben: Die in den Ton geritzten Rechtecke und Dreiecke markieren Grundstücksgrenzen.
Tripel als Hilfe bei der Landvermessung
Bei der Tontafel handelt es sich demnach um die Notizen eines babylonischen Landvermessers. „Damit ist diese Tafel das einzige bekannte Beispiel eines Kataster-Dokuments aus dem alten Babylonien“, sagt Mansfield. „Es ist ein Plan, den Vermesser nutzten, um Grenzen zu definieren. In diesem speziellen Falle verrät die Tafel uns die legalen und geometrischen Details eines Feldes, das aufgeteilt werden musste, nachdem ein Teil davon verkauft worden war.“
Das Entscheidende jedoch: Um die rechten Winkel der Grundstücksgrenzen zu erstellen, verwendete der Landvermesser Pythagoreische Tripel in Form von rechtwinkligen Dreiecken und Rechtecken. „Mit dieser Tontafel können wir zum ersten Mal sehen, warum die Babylonier so an der Geometrie interessiert waren: um akkurate Grenzen ihrer Ländereien zu ziehen“, erklärt der Archäologe. Weil damals der erste private Landbesitz aufkam, wurden solche Vermessungen nötig.
Ältester Beleg für angewandte Geometrie – und ein Rätsel
Damit ist die Tontafel Si.427 das älteste bekannte Beispiel für angewandte Geometrie. „Es ist reine Mathematik, inspiriert von den praktischen Problemen jener Zeit“, erklärt Mansfield. „Diese Entdeckung hat große Bedeutung für die Geschichte der Mathematik“, betont der Forscher. Denn die Keilschrifttafel belegt nicht nur, dass die Babylonier die Tripel und ihre Bedeutung für die Konstruktion rechter Winkel lange vor der Antike kannten. Sie deckt auch auf, wie sie diese Geometrie praktisch nutzten.
Ein Eintrag auf der Keilschrifttafel Si.427 gibt Mansfield allerdings noch Rätsel auf: Auf ihrer Rückseite sind im babylonischen Sexagesimalsystem die Ziffern 25:29 eingeritzt. „Ich habe keine Ahnung, was diese Zahlen bedeuten – es ist ein absolutes Rätsel“, sagt Mansfield. „Ich hoffe, dass vielleicht andere Historiker oder Mathematiker eine Idee haben, was diese Zahlen uns sagen sollen.“ (Foundations of Science, 2021; doi: 10.1007/s10699-021-09806-0)
Quelle: University of New South Wales