Männchen, deren Spermienpakete tief in die Haut eindringen. Weibchen, deren Bäuche voller gelagerter Spermien sind. Männchen, die die Weibchen bei der Paarung absichtlich verletzen. Das ist nur eine kleine Auswahl der bizarren Sexpraktiken, die jetzt ein Meeresbiologe bei Tintenfischen aufdeckte.
Die Tiefsee ist riesig: 80 Prozent des Meeresbodens weltweit liegen 2.000 Meter unter der Wasseroberfläche oder sogar noch tiefer. Für die in dieser gigantischen, stockdunklen Umgebung lebenden Tiere ist es nicht gerade leicht, einen Partner zu finden. Daher gilt es, die Gelegenheit zu ergreifen, wenn ihnen ein Artgenosse des anderen Geschlechts über den Weg schwimmt.
„Sich in der Tiefsee zu reproduzieren ist eine echte Herausforderung”, erklärt Henk-Jan Hoving, Meeresbiologe an der Universität von Groningen in den Niederlanden. Er hat das Reproduktionsverhalten von zehn verschiedenen in der Tiefsee lebenden Tintenfischarten untersucht und ist dabei auf einige reichlich bizarre Praktiken gestoßen. Vom zwölf Meter langen Riesen bis hin zum weniger als 25 Millimeter kleinen Zwerg reichte dabei die Palette.
Tiefe Schnitte
„Reproduktion ist kein Spaß, wenn man ein Tintenfisch ist”, erklärt Hoving. „Bei einer Art, der Taningia danae, entdeckte ich, dass die Männchen mit ihren scharfen Schnäbeln den Weibchen Schnitte von mindestens fünf Zentimetern Tiefe in den Nacken reißen – denn sie haben keine Saugnäpfe. Dann bringen sie ihren Spermienpakete in die Schnitte ein.“ Diese Tintenfischart ist nicht nur nahezu weltweit verbreitet, wie die Funde in den Mägen von Pottwalen zeigen, sie gehört auch zu den Spezies, die eine Art Stroboskopblitze erzeugen können, um Feinde abzuschrecken.
Per Gewebelöser durch die Haut
Bei einer anderen Art, Moroteuthis ingens, werden die Spermatophoren auf eine wenigstens etwas friedlichere Art „eingepflanzt“: „Bei dieser Art durchdringen die Spermatophoren die Haut von selbst“, so Hoving. „Mithilfe einer enzymähnlichen Substanz lösen sie wahrscheinlich das Gewebe auf.“ Der Forscher konnte dieses Verhalten beweisen, indem er in Experimenten Spermienpakete auf die Haut frisch gefangener Tintenfische legte und beobachtet, wie sie eindrangen. Diese Beobachtung bestätigt einen Bericht eines Vorfalls in Japan, bei dem jemand operiert werden musste, weil sich nach einer Tintenfischmahlzeit eine Spermatophore von innen in den Hals gebohrt hatte.
Reservespermien im Vorratsbeutel
Beim Mini-Tintenfisch Heteroteuthis dispar machte Hoving eine spannende Entdeckung, denn zum ersten Mal identifizierte er damit eine Tintenfischart, die ihre Eier im Körperinneren befruchtet. „Die Weibchen besitzen einen Beutel zur Spermienspeicherung, der direkt mit der Bauchhöhle und den Eileitern verbunden ist“, so Hoving. „Das deutet darauf hin, dass die Befruchtung im Inneren des Körpers stattfindet statt außerhalb – was für Tintenfische normaler wäre.“
Die Männchen füllen den Beutel der Weibchen bei der Paarung mit so vielen Spermien, dass diese hinterher rund drei Prozent des gesamten Körpergewichts des Weibchens ausmachen. Der Vorteil dabei: Die Weibchen, deren Eier über lange Zeiträume hinweg reifen, haben damit immer einen Vorrat in Reserve, den sie zur Befruchtung nutzen können auch wenn gerade kein Männchen in der Nähe ist.
Männchen mit weiblichen Drüsen
Und noch eine Kuriosität entdeckte der Forscher am Meeresgrund: eine Art Zwitter-Tintenfisch: „Normalerweise haben Tintenfische zwei getrennte Geschlechter. Es gibt keine Hermaphroditen wie bei Schnecken“, so Hoving. „Aber bei einer Art, Ancistrocheirus lesueurii, besitzen einige der Männchen kleine Drüsen, die bei den Weibchen an der Eierproduktion beteiligt sind. Sie haben zudem deutlich längere Körper als normale Männchen.“ Der Forscher kann das Phänomen allerdings bisher nicht erklären.
„Es ist möglich, dass es das Resultat von Hormonen und hormonähnlichen Substanzen ist, die als Folge der menschlichen Aktivitäten im Wasser landen – zum Beispiel der Pillennutzung. Aber es könnte sich auch um eine alternative Reproduktionsstrategie handeln, beispielsweise eine Möglichkeit, den Weibchen näher zu kommen.“
Einblick in ein kaum bekanntes Ökosystem
Die Studie liefert nicht nur interessante Informationen über die Tintenfische, sie gibt auch einen Einblick in eine bis heute kaum erforschte Region des Meeres. „Zuvor war über diese Organismen nur wenig bekannt, da sie so schwer zu untersuchen sind”, erklärt Hoving. „Die Tiefsee ist sehr unzugänglich. In solche Tiefen zu tauchen ist nur mithilfe von fortgeschrittener Technologie möglich.“
Um überhaupt Informationen über die von ihm untersuchten Arten zu gewinnen, musste Hoving einige Kreativität entwickeln. Er sammelte Exemplare auf wissenschaftlichen Expeditionen, untersuchte aber auch konservierte Tiere, die bereits in den 1960er und 70er Jahren in den Bäuchen von kommerziell gefangenen Pottwalen gefunden worden waren. Der Forscher hofft, dass seine Arbeiten auch zu einer nachhaltigeren Nutzung der Tiefsee beitragen können. „Die Fischerei dringt in immer tiefere Regionen vor. Die Tiefsee ist jedoch ein sehr sensibles Ökosystem. Es ist daher dringend nötig, dass wir mehr Wissen darüber sammeln.“
(Universität Groningen, 29.12.2008 – NPO)