Überraschende Entdeckung: Das Becken der Nordsee wird immer tiefer – und diese Absenkung geschieht deutlich schneller als bislang gedacht, wie seismische Messungen belegen. In den letzten 2,6 Millionen Jahren hat sich der Beckengrund demnach um bis zu 1.100 Meter abgesenkt, das entspricht rund 42 Zentimeter pro Jahrtausend. Hauptursache dafür ist die enorme Last des eingeschwemmten Sediments. Doch rund 25 Prozent dieser Absenkung lassen sich bisher nicht eindeutig erklären.
Die Nordsee hat eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. Bereits vor mehr als 60 Millionen Jahren dehnte sich in dieser Region die Erdkruste entlang von tektonische Verwerfungen und eine Senke inmitten der damaligen Kontinentkruste entstand. Als dann vor rund 2.6 Millionen Jahren das Eiszeitalter begann, überzogen mehrfach kilometerdicke Gletscher die junge Nordsee. Gleichzeitig strömten in den Tauphasen dazwischen immer wieder große Mengen Sediment aus den einmündenden Flüssen in das Nordseebecken.
Zu einem echten Meer wurde die Nordsee aber erst nach der letzten Eiszeit. Damals hoben sich die Küsten Englands und Schwedens um mehrere hundert Meter an, während das Zentrum der Nordsee absank. Als sich dann der Ärmelkanal öffnete, strömte Wasser aus dem Atlantik ein und überflutete die zuvor noch trockenen Landflächen zwischen Großbritannien und dem Kontinent.
Gletscherspuren im Nordsee-Sediment
Doch die Nordsee ist noch immer in Bewegung – und das stärker als bisher gedacht, wie Jashar Arfai von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und seine Kollegen herausgefunden haben. Für ihre Studie hatten sie mithilfe von seismischen Messungen die bis zu tausend Meter dicken Sedimentschichten der deutschen Nordsee kartiert. Diese Ablagerungen haben sich seit Beginn des Eiszeitalters durch eingeschwemmtes Sediment gebildet.
Der Clou dabei: Weil Teile dieser Schichten während der Vereisungen die damalige Erdoberfläche bildeten, sind in ihnen tiefe Kratz- und Schleifspuren der eiszeitlichen Gletscher erhalten. „Diese deutlichen Linien sind zwischen 100 Meter und 23 Kilometer lang und bis zu zwölf Meter tief“, berichten die Forscher. Diese Gletscherspuren ermöglichten es ihnen, das Alter der Sedimente zu bestimmen und die Geschwindigkeit, mit der sich der Felsuntergrund der Nordsee im Laufe der Zeit abgesenkt hat.
Mehr als tausend Meter abgesunken
Das überraschende Ergebnis: Der Untergrund der Nordsee hat sich deutlich stärker und schneller abgesenkt als bisher angenommen. „Der Meeresboden hat sich im Quartär – also in den vergangenen etwa 2,6 Millionen Jahren – um bis zu 1.100 Meter abgesenkt“, berichtet Arfai. Das sind im Durchschnitt 42 Zentimeter Absenkung pro Jahrtausend.
Bisher waren Geowissenschaftler von einer Absenkrate von rund 14 Zentimetern pro Jahrtausend ausgegangen. Damit hat sich die Absenkung des Nordseebeckens in der jüngeren Vergangenheit deutlich beschleunigt. In den etwa 60 Millionen Jahren zuvor war die Rate zehnmal geringer, wie die Forscher berichten.
„Das Niveau des Meeresbodens blieb trotzdem relativ konstant, weil die Sedimente der großen Flüsse wie Rhein, Elbe und Weser die im Durchschnitt 50 Meter tiefe Nordsee immer wieder auffüllen“, erklärt Arfai. Daher bestehe kein Anlass zur Sorge, dass die Nordsee irgendwann einmal in einem Loch verschwinden könnte: „Der Sedimenteintrag aus den Anrainer-Staaten ist so groß, dass die Absenkung regelmäßig ausgeglichen wird.“
Von der Last in die Tiefe gedrückt
Doch was ist der Grund für diese Absenkung? Um das herauszufinden, überprüften die Forscher verschiedene mögliche Ursachen in einem geophysikalischen Modell. Es zeigte sich: Für einen Großteil der Vertiefung des Nordseebeckens ist die enorme Last des aufliegenden Sediments verantwortlich. Sie allein reicht aus, um die relativ dünne, elastische Kruste unter dem Becken nach unten zu drücken. Allein dadurch sind die die Nordsee-Fundamente um 610 Meter abgesunken, wie Arfai und seine Kollegen ermittelten.
Hinzu kommt, dass sich auch das Krustengestein unter der Sedimentschicht im Laufe der Zeit nachgibt. Die enorme Auflast hat die vor der Eiszeit abgelagerten Sedimente komprimiert und trägt so weitere rund 200 Meter zur Absenkung der Nordsee bei. „Der größte Teil der Vertiefung und der Absenkung lässt sich damit durch die lastbedingte Subsidenz und die Kompaktierung erklären“, so die Forscher. Zusammen machen sie rund 75 Prozent aus.
Tektonische Dehnung oder Salzaustritte?
Allerdings: Welche Prozesse für den restlichen Teil der Nordsee-Absenkung verantwortlich sind, konnten auch Arfai und seine Kollegen nicht klären. Einer Hypothese nach könnten die alten Verwerfungen unter der zentralen Nordsee wieder begonnen haben, auseinanderzudriften – wie schon einmal in der Kreidezeit. „In unseren umfassenden seismischen Daten konnten wir aber keinerlei Indizien für eine solche erneuerte tektonische Aktivität finden“, betonen die Wissenschaftler.
Eine weitere mögliche Erklärung wären Verschiebungen in Salzvorkommen unter der Nordsee. Wenn entlang von Spalten und Brüchen Salz herausgedrückt wird, könnte dies ebenfalls zu einer Absenkung des Nordseegrunds führen. Doch auch das ist nach Angaben der Forscher eher unwahrscheinlich: „Die Hauptzone der Nordsee-Absenkung liegt in einem Gebiet mit nur geringen Salzvorkommen“, so Arfai und seine Kollegen.
25 Prozent bleiben rätselhaft
Die Geoforscher vermuten, dass sich die Ursache für den Rest der Absenkung tiefer im Untergrund verbirgt – im Bereich der unteren Erdkruste und des oberen Erdmantels. Doch welche Prozesse dies genau sind, lässt sich anhand der gegenwärtigen Daten nicht feststellen. „Aufgrund der dynamischen strukturellen Entwicklung des Nordseebeckens bleibt es unklar, ob die bisher nicht erklärten 25 Prozent Absenkung auf einem einzelnen Faktor oder einer Kombination von Prozessen beruhen“, konstatieren die Wissenschaftler.
Damit birgt die Nordsee trotz jahrzehntelanger intensiver Erforschung noch immer einige Geheimnisse. (Scientific Reports, 2018; doi: 10.1038/s41598-018-29638-6)
(Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), 16.08.2018 – NPO)