Das Jahr 2007 markiert einen bedeutenden Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: Erstmals werden weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Lande leben. Denn trotz des weltweit nachlassenden Bevölkerungswachstums sind die Wanderungsbewegungen in die städtischen Räume so stark wie nie zuvor. Hohe Wachstumsraten durch so genannte Migrationsgewinne sind die Folge. Städte, Metropolen und Megastädte mit mehreren Millionen Einwohnern gewinnen damit eine immer größere Bedeutung als zentrale Lebensräume der Menschheit.
„Bis zum Zweiten Weltkrieg war Verstädterung vor allem ein Phänomen der entwickelten Staaten“, erklärt Prof. Frauke Kraas vom Geographischen Institut der Universität zu Köln. „Doch danach setzte auch in den Entwicklungsländern ein rasantes Städtewachstum ein, bedingt durch hohes Bevölkerungswachstum, intensivierte Industrialisierung, Attraktionsgewinn der Städte sowie Landflucht“, fügt die Expertin für Metropolen- und Megastadtforschung hinzu.
Erhebliche Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
Seit 1950 wuchs weltweit der Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 29,8 Prozent über 37,9 Prozent (1975) auf 47,2 Prozent (2000). Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird dieser Wert im Jahr 2010 auf 57,2 Prozent und bis zum Jahr 2030 auf 60,2 Prozent ansteigen. Auffallend sind dabei die Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. So lebten in den Industrieländern 1990 bereits 73 Prozent der Gesamtbevölkerung in Städten, was etwa 877 Millionen Menschen entspricht. In den Entwicklungsländern hingegen lag der Prozentsatz zu diesem Zeitpunkt noch bei 37 Prozent – was allerdings in absoluten Zahlen bereits 1.357 Millionen Menschen umfasste.
„Heute tragen die Entwicklungsländer die Hauptprobleme dieser progressiven Urbanisierung, jedoch mit gravierenden Unterschieden hinsichtlich des aktuellen Verstädterungsniveaus“, erläutert Kraas. „Denn während die Urbanisierungsraten in Lateinamerika denen der entwickelten Staaten entsprechen, weisen weite Teile Afrikas und Süd-, Ost- und Südostasiens bislang noch sehr niedrige Urbanisierungsraten auf. Doch gerade in diesen Großregionen wird in den nächsten Jahrzehnten das städtische Bevölkerungswachstum am größten sein“, fasst die Lehrstuhlinhaberin für Anthropogeographie die künftige Entwicklung zusammen.
So gehen Hochrechnungen davon aus, dass bis zum Jahr 2025 die Verstädterungsrate in den Industrieländern nur noch leicht auf 78 Prozent oder 1.087 Millionen Personen steigen wird. Anders hingegen in den Entwicklungsländern, wo die Quote im gleichen Zeitraum auf schätzungsweise 57 Prozent der Gesamtbevölkerung anschwellen wird. Dann werden dort mehr als 3.845 Millionen Menschen in Städten leben. „Dieses rasante Wachstum schafft natürlich Probleme, denn die Städte der Entwicklungsländer müssen zwischen 2000 und 2030 fast das gesamte Wachstum der Weltbevölkerung aufnehmen – immerhin rund zwei Milliarden neue Menschen“, so Kraas.
Zentrale Probleme der Städte in Entwicklungsländern
Dabei weisen Städte und Metropolen in den Entwicklungsländern eine Vielzahl andersartiger Phänomene, Strukturen, Problemdimensionen und Prozesse auf als in den entwickelten Ländern: Stadtwachstum, Expansion und Umbau vollziehen sich mit hoher Geschwindigkeit und großer Flächeninanspruchnahme. Beteiligt sind häufig eine Vielzahl nicht miteinander koordinierter Aktivitäten von Akteuren verschiedenster Ebenen und Interessen. Gravierende Überlastungs- und Umweltprobleme sind die Folge, zu denen vor allem hohe Luft- und Wasserverschmutzung, weitgehend ungeregelte Abfall- und Abwasserentsorgung sowie Belastung der städtischen Böden gehören.
Straßenverkehr und Industrieunternehmen verursachen teilweise extreme Luftverschmutzung, die hinsichtlich der Kohlenmonoxid-, Schwefeldioxid-, Bleigehalts- und Schwebstaubbelastung die Spitzenwerte der Großstädte der entwickelten Länder um ein Mehrfaches überschreitet. Massiver funktionaler Stadtumbau führt ferner zur Auflösung bisheriger funktionaler Strukturen. Damit einher gehen oft mangelnde oder fehlende Flächennutzungsplanung und -kontrolle, ungesteuertes Flächenwachstum, erhebliche Verdrängungsprozesse am Boden-, Wohnungs- und Kapitalmarkt, eine Ausdifferenzierung informeller Prozesse, zunehmende Marginalisierung großer Bevölkerungsteile, große wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten sowie steigende Armut.
Anforderungen an Politik und Zivilgesellschaft
„Die genannten Probleme stellen spezifische Anforderungen an Verwaltung und städtische Politik, welche sich nicht ohne weiteres erprobter Lösungskonzepte ´westlicher` Herkunft bedienen können“, fasst Kraas zusammen. „Vielmehr müssen diese in die jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eingebunden sein.“ So können in Städten mit größerer Finanzkraft andere Lösungen ergriffen werden als in solchen mit bestenfalls geringen Steuereinnahmen; in Demokratien müssen Maßnahmen legitimiert werden, während autoritäre Regime mit größerer Effizienz, aber auch größerer Willkür handeln können. Mehr Beteiligung der städtischen Bevölkerung wird oft gefordert, lässt sich aber teils nur schwer verwirklichen angesichts weit verbreiteter Armut und dringenderen Alltagssorgen, geringer Bildung und Analphabetismus oder bestehenden politischen Machtverhältnissen.
Die Entwicklungsdynamik der Städte hat sich während des letzten Jahrzehnts erheblich beschleunigt, nicht zuletzt durch die Prozesse der Globalisierung und der internationalen Arbeitsteilung. „Die rasante Entwicklung macht deutlich, dass Städte, Metropolen und Megastädte oder megaurbane Regionen die entscheidenden Lebensräume der Weltbevölkerung sein werden“, urteilt Kraas. „Hier werden in Zukunft die Chancen, Probleme und Perspektiven der Menschheit entschieden.“
(Redaktion GeoUnion Newsportal, 05.01.2007 – AHE)