Dem Pol so nah: Der Eisbrecher Polarstern war vor wenigen Tagen nur noch 156 Kilometer vom Nordpol entfernt – auf 88°36′ Nord. So weit nördlich ist zuvor noch kein Schiff im Polarwinter gekommen. Auch der Versorgungseisbrecher der MOSAiC-Expedition, der neue Wissenschaftler und Proviant bringt, hat einen Polrekord erzielt. Jetzt sind beide Schiffe im Eis vereint und der zweite „Schichtwechsel“ der Expedition läuft.
Seit Herbst 2019 ist der Forschungseisbrecher Polarstern im Rahmen der MOSAiC-Expedition im arktischen Packeis unterwegs. Das Schiff, seine Besatzung und ihre auf einer Eisscholle errichteten Forschungsstationen treiben mit der Transpolardrift einmal durch die zentrale Arktis. Zum ersten Mal gewinnen Wissenschaftler dabei Daten zum Zustand von Eis, Meer und Atmosphäre dieser Region mitten im polaren Winter. Im Dezember 2019 wurde die gut hundertköpfige Crew zum ersten Mal ausgetauscht – ein Eisbrecher brachte die neue Besatzung und neue Vorräte.
Gleich zwei „Nord“-Rekorde hintereinander
Inzwischen hat die Polarstern mitsamt ihrer Eisscholle einen neuen Rekord erzielt: Am 24. Februar 2020 erreichte sie eine nördliche Breite von 88°36′ – sie war damit nur noch 156 Kilometer vom Nordpol entfernt. Die Transpolardrift hat den Eisbrecher im Laufe der Expeditionszeit zunächst nach Osten, dann nach Norden und Westen getrieben. Der Eisbrecher ist nun das erste Schiff, das im Polarwinter so weit nach Norden vorgedrungen ist. Die schnellste Drift registrierten die Forscher am 1. Februar 2020 mit 1,7 Kilometern pro Stunde.
Und noch einen Rekord gab es: Der russische Versorgungseisbrecher Kapitan Dranitsyn erreichte am 26. Februar 2020, kurz vor Erreichen der Polarstern, mit 88°28′ ebenfalls einen neuen Breitenrekord: Noch nie hat es ein Schiff so früh im Jahr aus eigenem Antrieb so weit in den Norden geschafft. Seit dem 28. Februar sind nun beide Schiffe vereint und das Umladen der neuen Vorräte und der Austausch der Crew sind in vollem Gang.
Hohes Risiko
„Diese Rekorde markieren Meilensteine der MOSAiC-Expedition“, sagt Markus Rex, Expeditionsleiter vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Polarstern-Kapitän Stefan Schwarze ergänzt: „Wir müssen den Hut ziehen vor Kapitän Alexandr Erpulev, der mit dem Eisbrecher Kapitan Dranitsyn durch den arktischen Winter bis fast an den Nordpol gefahren ist.“
Für den Versorgungseisbrecher war diese Fahrt in die zentrale Arktis ein hohes Risiko. Denn das stark zusammengedrückte und deformierte Eis ist stellenweise so zusammengeschoben, dass die Schollen 20 bis 30 Meter dick sind. Wegen nötiger Umwege und festem Eis hat der Eisbrecher auf der Hinfahrt mehr Treibstoff verbraucht als geplant. Damit er wieder zurückkommt, wird ihm im März ein zweiter Eisbrecher von Murmansk aus entgegenfahren und zusätzlichen Treibstoff mitbringen.
Temperatursturz erschwert Schichtwechsel
Doch auch auf der Scholle der MOSAiC-Expedition haben sich die Bedingungen deutlich verschärft. So gab es am 1. Februar den stärksten Kaltlufteinbruch der gesamten Expedition: Innerhalb eines Tages fiel die Temperatur von milden minus 11,4 Grad auf minus 38,2 Grad ab. Die gefühlte Kälte liegt durch den starken Wind inzwischen sogar bei minus 58 Grad. Für die Wissenschaftler auf dem Eis ist dies ein zusätzliches Risiko für Mensch und Material – vor allem während des Schichtwechsels.
Der Austausch von Crew und Material findet zu Fuß, mit Schneemobilen und mit großen Pistenraupen statt, die schwere Schlitten ziehen. Wegen der extremen Kälte arbeiten jedoch selbst die Verladekräne der Schiffe nur langsam. Zudem kann ein Großteil des Materials, darunter auch die frischen Lebensmittel, nur in beheizten Containern umgeladen werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich noch nicht sagen, wie lange der Austausch von Crew und Fracht dauern wird.
Positive Bilanz des bisherigen Expeditionsverlaufs
Auch wenn die MOSAiC-Expedition noch nicht einmal ihre Halbzeit erreicht hat, ziehen die Wissenschaftler schon jetzt eine positive Bilanz. „In den vergangenen Monaten haben wir den Winter am Nordpol kontinuierlicher und präziser beobachten können als es jemals vorher möglich war“, erläutert Fahrtleiter Christian Haas vom Alfred-Wegener-Institut. 34,3 Terabyte Daten haben die Wissenschaftler bisher bereits gesammelt.
So konnten die Forscher mit Hilfe von Helikopter-Laserscannermessungen, dem Schiffsradar sowie Bojen beobachten, wie sich das Eis deformierte und wie sich Rinnen öffneten und schlossen. Messungen auf dem Eis, an Bord und mit Ballonen ergaben zudem, dass die Lufttemperatur in geringer Höhe über dem Eis viel niedriger ist als in 20 Metern Höhe. Gerade diese bodennahe Luftschicht jedoch beeinflusst maßgeblich das Dickenwachstum des Eises.
Tauchgänge mit den Unterwasserrobotern zeigten, dass das Leben unter dem Eis auch in der Polarnacht weitergeht. „Im Februar haben wir sogar häufiger eine Robbe unter dem Eis beobachtet, die offenbar selbst kurz vor dem Nordpol ausreichend Nahrung findet“, berichtet Haas.
Dämmerung und dickes Eis
Der nun beginnende dritte Expeditions-Abschnitt bringt den Polarforschern auf ihrer Driftscholle aber zumindest wieder ein wenig Licht zurück: Schon jetzt können die Wissenschaftler mehrere Stunden am Tag eine leichte Dämmerung wahrnehmen – ein Vorbote des nahenden Polartages. Bisher steht die Sonne zwar noch unter dem Horizont, ihre Strahlen sorgen aber schon für ein wenig Licht auf dem Eis.
Doch in Bezug auf das Meereis kommt die Phase der größten Dicke noch. In den kommenden Wochen erwarten die Forscher, dass das Eis noch kompakter wird. Ein Eisbrecher hat dann keine Chance mehr, zur Polarstern vorzudringen. Daher soll der nächste Crew-Austausch samt Nachschublieferung im April per Flugzeug stattfinden. Dafür haben die Expeditionsmitglieder bereits mit Hilfe von Pistenraupen eine 900 Meter lange Landebahn auf ihrer Eisscholle präpariert.
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung