Geowissen

Eiszeit-Geschichte der Nordsee revidiert

Vergrabene Landschaften werfen neues Licht auf Timing und Ausdehnung der Nordsee-Vereisung

Wattenmeer der Nordsee
Heute liegen die eiszeitlichen Landschaften der Nordsee unter dickem Sediment begraben. Aber seismische Daten enthüllen ihre Geschichte. © Cloud-Mine-Amsterdam/ iStock

Verborgene Zeugen: Tief unter dem Nordseeschlick haben Geologen Landschaftsformen entdeckt, die ein ganz neues Licht auf die Geschichte der Nordsee während der Eiszeit werfen – und gängige Modelle widerlegen. Sie enthüllen, dass die Nordsee bis vor gut 1,1 Millionen Jahren noch unvereist war und starke Strömungen besaß. Dann rückte jedoch ein Eispanzer aus Richtung Norwegen vor und blieb bis zum Ende der Eiszeit liegen – bisher waren Forscher von mehreren einzelnen Gletschervorstößen ausgegangen.

Die Nordsee hat eine bewegte Geschichte hinter sich – und nicht alle Phasen davon sind bisher aufgeklärt. Zwar ist klar, dass dieses Gebiet während der Eiszeit von hunderte Meter dicken Gletschern bedeckt war. Sie hinterließen bei ihrem Rückzug vor rund 12.000 Jahren tief eingekerbte Schluchten und hohe Kliffs, wie seismische Daten im Jahr 2021 enthüllten. Diese nacheiszeitliche Landschaft lag zunächst trocken und bildete das Doggerland – einen fruchtbaren, von Menschen besiedelten Lebensraum. Erst vor gut 8.000 Jahren versank dieses steinzeitliche Paradies im Meer.

Modelle der Nordsee-Vereisung
Die beiden bisherigen Modelle für die Vereisung der Nordsee im Vergleich. © Ottesen et al./ Science Advances, CC-by-nc 4.0

Zwei kontrastierende Szenarien

Doch strittig war bisher, wie und wann die Nordsee zu Beginn der letzten Eiszeit vergletscherte: Einem Szenario zufolge rückten die Gletscher aus Skandinavien und von den Britischen Inseln erst während des mittleren Pleistozäns vor 1,3 bis 0,8 Millionen Jahren bis in die zentrale Nordsee vor. Diese Gletscher sollen zudem mehrfach vorgerückt und wieder zurückgewichen sein, so dass die Nordsee zwischendurch immer wieder frei lag.

„Im Gegensatz dazu postuliert das Modell einer ‚frühen Vereisung‘, dass es schon weit früher, im frühen Pleistozän, auf Grund liegende Eisschilde in der zentralen Nordsee gab“, erklären Dag Ottesen vom Geologischen Dienst Norwegens in Trondheim und seine Kollegen. Demnach vereinten sich die von beiden Seiten vorrückenden großen Eisschilde schon vor 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren und bedeckten die Nordsee ab dann komplett.

Seismische 3D-Daten enthüllen Eiszeit-Strukturen

Doch welches Szenario stimmt? Das haben nun Ottesen und sein Team herausgefunden. Sie hatten für ihre Studie Daten seismischer 3D-Erkundungen ausgewertet, die ursprünglich für die Suche nach Erdöl- und Erdgas sowie für die Bewertung von Standorten für Offshore-Windparks erstellt worden waren. Sie zeigen auch die Schichten, die in den verschiedenen Phasen des Eiszeitalters die Nordseeoberfläche bildeten. „Diese 3D-Seismikdaten ermöglichen es uns, die unter dem Nordsee-Sediment vergrabenen Landschaften in erstaunlichem Detail zu untersuchen“, sagt Ottesen.

Strömungsfurchen
Strömungsfurchen am frühpleistozänen Nordseegrund. © Ottesen et al./ Science Advances, CC-by-nc 4.0

Die Auswertungen enthüllten mehrere sehr unterschiedliche Landschaftsformen unter dem Nordseeschlick. Demnach war der Nordseegrund vor rund 1,7 Millionen Jahren von rundlichen und elliptischen „Pockennarben“ übersäht. „Die runden Pockennarben sind durch das Austreten von Flüssigkeit aus den darunterliegenden Sedimenten entstanden“, berichtet das Team. Diese wenige Meter tiefen Krater wurden dann jedoch durch darüber strömendes Meerwasser verformt und bildeten elliptische, nach Süden hin flach auslaufende Senken.

Kein Eispanzer bis vor 1,1 Millionen Jahren

In späteren Schichten aus der Zeit bis vor 1,1 Millionen Jahren entdeckten die Geologen ebenfalls Strukturen, die unter Wasser entstanden sein müssen: Der Untergrund war von kilometerlangen, leicht gewellten Rinnen durchzogen, die bis zu 1,5 Kilometer breit und 50 Meter tief waren. „Solche Konturströmungsfurchen entstehen, wenn sich schnelle Strömungen entlang von Unterseehängen in das Sediment fressen“, erklären Ottesen und seine Kollegen. Ihren Analysen zufolge müssen diese Furchen in 100 bis 300 Meter Wassertiefe entstanden sein.

Das aber bedeutet: Anders als vom „frühen“ Modell postuliert, muss die Nordsee bis vor rund 1,1 Millionen Jahren noch eisfrei gewesen sein. „Mithilfe unserer hochauflösenden Daten können wir klar erkennen, dass diese Rinnen auf ozeanische Strömungen zurückgehen müssen“, sagt Ottesen. Ihre gewellte Form, unregelmäßige Breite und große Tiefe unterscheide diese Furchen klar von unter Gletschern entstandenen Strukturen. „Das widerspricht vorherigen Interpretationen dieser Strukturen als glazialen Landschaftsformen“, so Ottesen.

Rekonstruktion der Eiszeit-Nordsee
Neue Rekonstruktion der eiszeitlichen Geschichte der Nordsee. © Ottesen et al./ Science Advances, CC-by-nc 4.0

Ein großer Gletschervorstoß

Doch wann begann dann die Vereisung der Nordsee? Auch das verraten die unter dem Sediment verborgenen Landschaftsformen. Rund 2.000 bis 700 Meter unter dem heutigen Meeresgrund identifizierten die Geologen eine 50 bis 120 Meter dicke Schicht Geschiebemergel – Material, das an der Basis eines Gletschers abgelagert wurde. „Diese Schicht ist an der Nordostseite des Nordseebeckens am dicksten und dünnt nach Südwesten hin aus“, berichten Ottesen und sein Team.

Ihrer Ansicht nach spricht dies dafür, dass ein großer Eisstrom vor rund 1,1 Millionen Jahren von Skandinavien aus bis in die zentrale Nordsee vorrückte. Dieser Gletschervorstoß markierte die stärkste Vereisung der Nordsee, wie die Geologen erklären. „Wir schlagen vor, dieses Ereignis Hardanger-Vereisung zu nennen, nach der Hardanger-Provinz in Westnorwegen“, schreiben sie. Südlich und westlich dieses Eisschilds identifizierten sie zudem mögliche Schrammen von Eisbergen.

„Eiszeitgeschichte der Nordsee umgeschrieben“

„Zusammengenommen schreiben diese Ergebnisse unsere Vorstellungen der eiszeitlichen Geschichte der Nordsee um“, sagt Ottesen. Sie widerlegen zum einen das Modell der frühen Vereisung, schränken aber auch das „späte“ Modell ein. Denn anders als in letzterem postuliert, sind die Gletscher Skandinaviens und der Britischen Inseln nicht mehrmals, sondern nur einmal ins Gebiet der zentralen Nordsee vorgerückt, wie die Geologen erklären.

Wichtig sind die neuen Erkenntnisse aber nicht nur für die Nordsee: „Unser schematisches Modell für die frühpleistozäne Entwicklung des zentralen Nordseebeckens präzisiert auch numerische Erdsystemmodelle, die vorhersagen, wie sich globale Klimaveränderungen auf Schwankungen von Eisschilden und Meeresspiegel auswirken“, schreiben Ottesen und sein Team. Als nächstes wollen sie Bohrkerne gewinnen und auswerten, um ihre Schlussfolgerungen weiter zu präzisieren. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adq6089)

Quelle: Science Advances, Newcastle University

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