Führende Wissenschaftler aus aller Welt diskutieren bis zum 4. Juni 2004 auf einem internationalen Symposium in Sprockhövel die Verformung der Erdkruste in geologisch sehr schnellen Zeitmaßstäben. Sie wollen vor allem die Gefahren, die sich durch die Erdverformungen ergeben, besser einschätzen können.
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Von größtem Interesse ist dabei, dass sich Verformungsprozesse in den tieferen Stockwerken der Erdkruste, also unterhalb des Niveaus der Erdbeben, ebenfalls in menschlichen Zeitmaßstäben abspielen können, dass sich diese Prozesse in der Tiefe an der Erdoberfläche auswirken und dort mit hochauflösenden geodätischen Verfahren verfolgt werden können. Die entscheidenden Schritte sind nun, ein besseres Verständnis für die vielfältigen und zum Teil sehr komplizierten Vorgänge in der Tiefe zu gewinnen, Methoden zu entwickeln um diese Prozesse mit geophysikalischen Verfahren direkt zu beobachten, und Modelle zu entwerfen, auf deren Grundlage aus der Verformung der Erdoberfläche auf die Prozesse und Zustände in der Tiefe geschlossen werden kann.
Aufgrund der Vielfalt der Vorgänge und des uneinheitlichen Aufbaus der Erdkruste ist dies ein weiter Weg. Der Bedeutung des Ziels entsprechend wird er zahlreiche Forscher aus den verschiedenen beteiligten Disziplinen für Jahrzehnte beschäftigen. Es wird erwartet, dass dadurch zwar nicht die ersehnte kurzfristige Vorhersage von Erdbeben in menschlich und ökonomisch praktischen Zeiträumen realisierbar wird, aber die Einschätzung des Gefahrenpotenzials in mittleren Zeiträumen enorm verbessert werden kann.
Kontinuierliche Verformung
Tektonik ist der Zweig der Geowissenschaften, der sich mit der Verformung der Erdkruste in allen Maßstäben befasst, vom einzelnen Erdbeben bis zur Gebirgsbildung. In den letzten Jahren hat die satellitengestützte Geodäsie einen enormen Erkenntnisgewinn erbracht zur Verformung der Erdoberfläche in menschlichen, geologisch gesehen also sehr kurzen Zeitmaßstäben. So konnten Wissenschaftler zum Beispiel die Geschwindigkeit der Drift der großen Lithosphärenplatten von einigen Zentimetern pro Jahr durch direkte Messung über Zeiträume von nur wenigen Jahren bestätigen. Und es zeigte sich, dass die Lithosphärenplatten in sich nicht vollkommen starr sind und dass sich etwa 20 Prozent der Erdoberfläche kontinuierlich verformen. Dieses sind die Gebiete, in denen es auch abseits scharf geschnittener Plattengrenzen häufig zu Erdbeben kommt. Erdbeben entstehen bei ruckartiger Verformung der spröden oberen Erdkruste, während sich die tiefere Erdkruste (in mehr als 10 bis 15 km Tiefe) aufgrund der dort höheren Temperaturen und Drucke sehr langsam plastisch verformt.
Beobachtungen per Satellit
Während ein Erdbeben nur Sekunden dauert, innerhalb von denen sich die obere Erdkruste an großen Bruchzonen um bis zu mehrere Meter verschieben kann, haben die neuartigen satellitengestützten geodätischen Verfahren in den letzten Jahren die Möglichkeit geschaffen, die Verformung der Erdoberfläche auch über Zeiträume von Stunden bis zu Jahren zu verfolgen. Diese deutlich langsamere, für geologische Zeitmaßstäbe aber sehr schnelle Verformung, steht in vielen Fällen mit der schnellen Verschiebung bei Erdbeben in unmittelbarem Zusammenhang. Verursacht wird sie wahrscheinlich durch Ausgleichsbewegungen in der tieferen, wärmeren Erdkruste.
Eine Zwischenbilanz der Tektonik
Das Symposium „Tektonik in menschlichen Zeitskalen“ zieht eine Zwischenbilanz und definiert neue Fragen und künftige Richtungen. Die Kombination der verschiedenen Ansätze soll ein integrales Bild zum mechanischen Verhalten der Erdkruste liefern. Es zeichnet sich ab, dass die Bewegungen und Verformung der Erdkruste in Längenmaßstäben unterhalb der Dimension typischer Lithosphärenplatten, also unterhalb von etwa 1000 km, in den meisten Fällen inhomogen und episodisch erfolgt, wobei die Erdbeben in der oberen Erdkruste die Fließvorgänge in der tieferen Kruste und im oberen Erdmantel beeinflussen und umgekehrt.
Erdbeben und Verformung
Die Experten aus den Zweigen der Geowissenschaften, der Mechanik und der Materialwissenschaft beschäftigen sich auf dem Symposium mit zahlreichen Fragen: Welche Prozesse unter der Erdoberfläche, also in der Erdkruste und im oberen Erdmantel, sind für die mit den modernen geodätischen Methoden in verschiedenen Gebieten in erfassbare Verformung der Erdoberfläche verantwortlich? Wie hängen Erdbeben und die langsamere Verformung über Stunden, Tage, Monate, Jahre und Jahrzehnte zusammen? Die Forscher diskutieren in Sprockhövel, wie sich die Gesteine in der Erdkruste und im Erdmantel bei diesen Verformungsvorgängen verhalten, wie sich die ruckartige Verschiebung bei einem Erdbeben in der Tiefe auswirkt und wie das Tiefengestein in diesem Augenblick verformt und geschädigt wird.
(idw – Ruhr-Universität Bochum, 03.06.2004 – DLO)