Blick in verschlossene Briefe: Mit Hilfe eines speziellen Röntgenscanners und Computeralgorithmen ist es Forschern gelungen, gefaltete und versiegelte Briefe aus der Renaissance zu lesen, ohne sie zu öffnen oder anderweitig zu beschädigen. Ihr Verfahren enthüllt nicht nur den Inhalt der Briefe, sondern auch komplizierte Falttechniken, mit denen die Absender ihre Briefe vor 300 Jahren gesichert haben.
Vor 300 Jahren gab es in Den Haag bereits ein reges Postsystem. Davon zeugt unter anderem die Brienne-Sammlung – eine Truhe mit Briefen, die zwischen 1680 und 1706 aus ganz Europa in die niederländische Stadt geschickt wurden. Üblicherweise zahlte der Empfänger damals eine Zustellgebühr. War er nicht anzutreffen oder hatte kein Interesse, wurde der Brief meist vernichtet.
Die Postmeister Simon und Marie de Brienne jedoch bewahrten diese nicht zugestellten Schreiben ungeöffnet auf – womöglich in der Hoffnung, doch noch dafür bezahlt zu werden. Ihr Vermächtnis – tausende Briefe, die niemals ihren Empfänger erreichten – befindet sich seit 1926 im Postmuseum in Den Haag.
Röntgenscanner aus der Zahnmedizin
Forscher um Jana Dambrogio vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge haben nun einige dieser historischen Dokumente ausgewertet, ohne sie zu beschädigen. Dazu erfassten sie per Röntgenscan die verschiedenen Schichten der gefalteten Briefe und bildeten ab, an welchen Stellen sich Tinte befand. Mit Hilfe eines Computeralgorithmus konnten sie die Schriftstücke virtuell entfalten.
Um den Briefen ihre Geheimnisse zu entlocken, verwendete das Team einen Röntgenscanner, der ursprünglich für die zahnmedizinische Forschung entwickelt wurde. „Wir haben unseren Röntgenscanner so konstruiert, dass er eine noch nie dagewesene Empfindlichkeit hat, um den Mineralgehalt von Zähnen abzubilden“, erklärt Koautor Graham Davis von der Queen Mary University of London. „Aber diese hohe Empfindlichkeit hat es auch möglich gemacht, bestimmte Arten von Tinte in Papier und Pergament aufzulösen.“
Davis Kollege David Mills ergänzt: „Wir waren in der Lage, mit unseren Scannern die Geschichte zu durchleuchten. Der Rest des Teams konnte dann unsere Scan-Bilder zu nehmen und sie in Briefe zu verwandeln, die man virtuell öffnen und zum ersten Mal seit über 300 Jahren lesen konnte.“
Informationen aus ungeöffneten Briefen
Auf diese Weise enthüllten die Forscher den Inhalt eines Briefes, der auf den 31. Juli 1697 datiert ist. Darin bittet ein Jacques Sennaques seinen Cousin Pierre Le Pers, einen französischen Kaufmann in Den Haag, um eine beglaubigte Abschrift der Todesanzeige eines gewissen Daniel Le Pers. „Dieser Brief ist für die Alltagskommunikation der damaligen Zeit typisch“, schreiben die Forscher. „Vor der computergestützten Analyse kannten wir nur den Namen des vorgesehenen Empfängers, der auf der Außenseite des Briefes stand.“
Das Team richtete das Augenmerk allerdings nicht nur auf die geschriebenen Worte, sondern auch auf die Falttechnik, mit der das Papier in Form gebracht worden war. „Vor der Verbreitung massenhaft hergestellter Briefumschläge in den 1830er Jahren wurden die meisten Briefe per Letterlocking verschickt, also durch das Falten und Sichern von Schriftträgern zu Briefumschlägen“, erklären die Forscher. „Letterlocking war jahrhundertelang eine alltägliche Praxis, über Kulturen, Grenzen und soziale Klassen hinweg, und spielt eine wesentliche Rolle in der Geschichte der Geheimhaltungssysteme.“
Gefaltet und gesiegelt
Der Brief von Jacques Sennaques war mit einer relativ einfachen Technik gefaltet, bei der zwei Ecken des Briefbogens zu einer Spitze geklappt werden, die Kanten des Papiers eingeschlagen und dann zusammengeschoben werden. Die Sicherheitsstufe dieser Faltmethode ordnen die Forscher als gering ein. Andere Briefe der Sammlung dagegen wiesen komplizierte Falttechniken auf, bei denen das Papier teils durchstochen oder zusammengeklebt wurde.
Die Methode des virtuellen Entfaltens könnte aus Sicht der Forscher dabei helfen, diese historische Version der physischen Kryptographie zu verstehen und gleichzeitig ihr kulturelles Erbe zu bewahren. „Die computergestützte Analyse ermöglicht, dass die Briefe in ihrem verschlossenen Zustand intakt bleiben, Forscher aber dennoch ihren Inhalt lesen und ihre Letterlocking-Mechanismen identifizieren können“, so die Autoren. „Wir haben gelernt, dass Briefe viel aufschlussreicher sein können, wenn man sie ungeöffnet lässt.“ (Nature Communications, 2021, doi: 10.1038/s41467-021-21326-w)
Quelle: Queen Mary University of London