Variantenreicher Kalk: Forscher haben erstmals die „Geburt“ eines Kalk-Kristalls live beobachtet. Dieser entscheidende Schritt verläuft so schnell und der Kristallkeim ist so klein, dass dies bisher nicht möglich war. Die Live-Schau im Elektronenmikroskop enthüllt nun: Die Nukleation des Calciumcarbonats ist viel variantenreicher als gedacht, wie die Forscher im Fachmagazin „Science“ berichten.
Calciumcarbonat (CaCO3), auch als kohlensaurer Kalk bekannt, ist eines der größten Reservoire für Kohlenstoff auf unsrem Planeten. Es bildet Gesteine wie Kreide, Kalkstein und Marmor, findet sich aber auch in den Schalen unzähliger Land- und Wassertiere. Gleichzeitig ist das Karbonat ein wichtiger Rohstoff für viele Industriezweige. Damit der Kalk entsteht, muss das Calciumcarbonat kristallisieren. Dabei wandelt sich die ungeordnete Organisation der in Wasser gelösten Moleküle in ein geordnetes Gefüge um – ein Kristallisationskeim entsteht. An ihn lagern sich dann weitere Moleküle an und der Kristall beginnt zu wachsen.
Vom Keim zum Kristall
Nach gängiger Theorie legt dabei der erste Schritt, die Nukleation, bereits fest, welche Kristallform sich entwickelt, alle weiteren Moleküle übernehmen quasi wie von einer Schablone die vom Kristallisationskeim vorgegeben Struktur. Allerdings: Ausgerechnet der entscheidende Startpunkt des Ganzen ist schwer zu beobachten, denn er geschieht blitzschnell und der Kristallisationskeim ist mikroskopisch klein.
Deshalb war bisher strittig, ob die gängige Theorie beim Calciumcarbonat greift oder ob es nicht vielleicht doch instabile Zwischenschritte auf dem Weg zum endgültigen Kristall gibt. „Seit einem Jahrzehnt untersuchen wir die Bildungswege von Calciumcarbonat mit leistungsfähigen Mikroskopen, aber uns fehlten die Werkzeuge, um die Entstehung der Kristalle in Echtzeit zu beobachten“, erklärt Projektleiter James De Yoreo vom Pacific Northwest National Laboratory (PNNL) in Richland.
Testkammer im Elektronenmikroskop
Dank der sogenannten „Liquid Cell“-Transmissions-Elektronenmikroskopie ist nun jedoch der Blick auf die Nukleation in Echtzeit erstmals gelungen. Bei diesem Verfahren durchleuchtet das Elektronenmikroskop eine winzige Kammer, die als eine Art Minireagenzglas dient. In diese gaben die Forscher hochkonzentrierte Lösungen aus Calciumchlorid (CACl2) und Natriumhydrogencarbonat (NaHCO3) in Wasser – und brachten damit die Bausteine für die Kristallisation des Calciumcarbonats zusammen. Per Mikroskop-Video zeichneten die Wissenschaftler auf, was in dem winzigen Kämmerchen geschah.
Vom amorphen Gebilde zum Kristall
Wie sich zeigte, bildeten sich die Kristalle auf ganz unterschiedlichen Wegen: Bei einigen bildeten sich Kristalle direkt aus der Lösung. In anderen Fällen entstand zunächst ein tropfenähnliches Gebilde aus amorphem Calciumcarbonat (ACC). „Dieses wuchs zu einer Größe von 100 Nanometern bis zu einigen Mikrometern heran“, berichten die Forscher.
Dann plötzlich erschienen auf der Oberfläche des Tropfens die ersten Kristalle der Mineralformen Aragonit oder Vaterit. Beide besitzen eine leicht andere Kristallstruktur als das Calcit, eine stabilere Calciumcarbonat-Variante. Die neuen Kristalle wuchsen schnell heran, während das ACC schrumpfte und schließlich komplett aufgezehrt wurde.
Die Beobachtungen gaben den Forschern auch Einblick darin, wie sich der Wandel von der ungeordneteren amorphen zur geordneten Kristall-Phase vollzieht: „In allen Fällen, in denen wir den Startpunkt des zweiten Keims bestimmen konnten, lag er an der Oberfläche des Vorgänger-Partikels“, berichten sie. Vermutlich begünstige die höhere Mobilität der Oberflächen-Ionen und der schnellere Austausch mit gelösten Ionen diesen Prozess.
Unvorhersehbar und variantenreich
„Dies ist das erste Mal, dass wir diese Bildungsprozess direkt visualisiert haben“, sagt De Yoreo. „Wir beobachteten dabei viele Bildungswege, die sich simultan und zufällig ereigneten – wir konnten nie vorhersagen, was als nächstes vorkommen würde.“ Allerdings: Einige Varianten schienen sich nie zu ereignen, darunter die Bildung von Calcit aus amorphem Calciumcarbonat. „In unseren hunderten von Experimenten haben wir diesen Prozess nie beobachten können“, so die Forscher. Das belege zwar nicht, dass dieser Bildungsweg unmöglich sei, aber offenbar sei er eher unwahrscheinlich.
Klar ist jedoch: Die Kristallbildung beim Allerweltsmaterial Calciumcarbonat verläuft sehr viel komplexer und vielseitiger als bisher angenommen. (Science, 2014; doi: 10.1126/science.1254051)
(Science / Pacific Northwest National Laboratory, 05.09.2014 – NPO)