Echt oder gefälscht?
Damals, lange vor dem Fund der Qumran-Schriftrollen, hielten es viele Altertumsforscher jedoch für völlig unmöglich, dass auf Leder oder Pergament geschriebene Texte mehr als 2.000 Jahre lang überdauert haben sollten. Zudem war Shapira kein unbeschriebenes Blatt: Einige Jahre zuvor hatte er angeblich moabitische Tonfiguren verkauft, die sich als gefälscht herausstellten. Diesmal jedoch, darauf beharrte der Händler, seien die Funde echt.
Um das zu untermauern, legte Shapira die Fragmente sowohl in Berlin als auch in London beim British Museum zur Untersuchung vor. In Berlin kam man nach nur 90 Minuten der Musterung und Diskussion zum Ergebnis, dass es sich um eine clevere Fälschung handeln musste. Allerdings wurde weder eine chemische Analyse durchgeführt, noch nähere Untersuchungen der Schriftzeichen.
Am British Museum stellte man die biblischen Manuskript-Fragmente zunächst aus, kam aber dann auch zu dem Schluss, dass die Fragmente nicht echt sein konnten. Man hielt es für wahrscheinlicher, dass Shapira das Pergament von einer alten Tora-Rolle abgetrennt und neu beschrieben hatte. Shapira war durch dieses Urteil endgültig als Fälscher gebrandmarkt und nahm sich kurze Zeit später das Leben. Die nach ihm benannten Fragmente sind seither verschollen – von ihnen existieren nur noch einige zeitgenössische Abschriften und Zeichnungen.
Fehler in den Abschriften, nicht in den Fragmenten selbst
Jetzt hat der Altertumsforscher und jüdische Theologe Idan Dershowitz von der Universität Potsdam den Fall der Shapira-Fragmente noch einmal aufgerollt. Dafür wertete der Forscher neu entdecktes Archivmaterial und Abschriften zu den Funden aus und analysierte die Textstellen auf den Shapira-Fragmenten in Bezug auf ihren biblischen Kontext.
Eine erste Auffälligkeit dabei: Die Abschriften der Fragmente, auf die sich viele der neueren Bewertungen und Textanalysen stützen, sind extrem ungenau. Vor allem die vermeintlich falsche oder inkonsistente Schreibweise einiger hebräischer Buchstaben erwies sich beim Vergleich verschiedener Zeichnungen nicht als Kennzeichen des Originals, sondern der Abschriften, wie Dershowitz an mehreren Beispiele demonstriert.
‚“Die Merkmale, die den Paläografen als problematisch erschienen, sind demnach nicht Charakteristiken des Shapira-Manuskripts, sondern der nachträglich angefertigten Zeichnungen“, so der Forscher.
Shapira selbst hatte Probleme beim Entziffern
Ein weiteres Indiz gegen die Fälschungs-Theorie entdeckte Dershowitz in einigen von Shapiro stammenden Notizbüchern: „Von größtem Interesse sind in diesem Zusammenhang drei linierte Blätter, die willkürlich zwischen den mehrere hundert Seiten der Notizen lagen“, berichtet er. Auf ihnen ist eine frühe, handschriftliche Transkription eines der drei hebräischen Manuskripte zu finden – erstellt von Shapira selbst.
Das Entscheidende dabei: „Diese Transkription enthält eine große Zahl von Fragezeichen, Randnotizen und durchgestrichenen Fassungen – es scheint sich um eine vorläufige Entzifferung zu handeln“, berichtet Dershowitz. Auch über die richtige Reihenfolge der Textfragmente war sich Shapira offenbar unsicher. „Shapiras hier ersichtliche Probleme, den Text zu verstehen, machen es sehr unwahrscheinlich, dass er an der Fälschung beteiligt war“, konstatiert der Wissenschaftler.
Vorform des 5. Buchs Mose
Indizien auf die mögliche Authentizität der Shapira-Fragmente sieht Dershowitz zudem im Inhalt der Text-Stücke. „Die Komposition, die in diesen Fragmenten bewahrt ist, basiert nicht, wie stets vermutet, auf dem Buch Deuteronomium“, erklärt der Experte für Hebräische Bibel und Exegese. „Stattdessen scheint der Text auf Shapiras Fragmenten entweder ein direkter Vorläufer des biblischen 5. Buch Mose zu sein oder ein enger Verwandter eines solchen Vorläufers.“
Hinweise darauf sind unter anderem Inhalte und Formulierungen, die nach heutigem Wissen zu den Ursprüngen dieses alttestamentarischen Textes passen, die aber im 19. Jahrhundert unbekannt waren – und damit auch einem möglichen Fälscher in jener Zeit.
„Beispiellos in ihrer Bedeutung“
Nach Ansicht von Dershowitz sprechen all diese Argument dafür, dass die Shapira-Fragmente authentisch und „beispiellos in ihrer Bedeutung sind“. Denn es könnte sich um einen vorkanonischen Vorläufer des Buches Deuteronomium aus der Zeit des ersten Jerusalemer Tempels handeln – und damit um ein proto-biblisches Buch.
Sollte sich dies bestätigen, dann wären die vermeintlich gefälschte Pergamentstücke vom Toten Meer eine kleine Sensation. Denn die heute verschollenen Shapira-Fragmente wären dann der bei Weitem längste hebräische Text, der je aus dieser frühen Zeitepoche entdeckt wurde. Ihr Inhalt könnte einschneidende Konsequenzen für das Verständnis der Bibel nach sich ziehen. (Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 2021; doi: 10.1515/zaw-2021-0001)
Quelle: Universität Potsdam
22. März 2021
- Nadja Podbregar