Das Wechselspiel von Ebbe und Flut im Meer ist vertraut. Aber wussten Sie, dass auch die Kontinente der Anziehungskraft von Mond und Sonne unterliegen und somit Gezeiten aufweisen?
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Die Erde unter unseren Füßen wirkt stabil und fest. Doch die Kontinente verändern im Laufe der Jahrmillionen ihre Lage und teilen und vereinen sich in einem langsamen Tanz. Fast schon hektisch wirkt dagegen der Gezeitenrhythmus der Erde. Zweimal täglich hebt und senkt sich die Erde in unseren Breiten bis zu 35 Zentimeter – bezogen auf den Erdmittelpunkt. Wir merken davon nichts. Allerdings vermuten Wissenschaftler, dass diese Tiden in Spannungsgebieten der letzte Anstoß für ein Erdbeben oder ein Nachbeben sein können. Hervorgerufen werden sie durch dieselben Kräfte wie die Tiden der Ozeane.
Steinige Gezeiten
Denn genau wie die Ozeane bilden auch die Landmassen zwei Tidenberge, die sich auf der Achse Erde-Mond gegenüberliegen. Möglich ist dies, da die Erdkruste eine gewisse Elastizität aufweist, obwohl sie relativ starr erscheint. So können der Erdkörper und damit auch die Kruste den Anziehungskräften von Mond, Sonne und den Gestirnen nachgeben. Da viele falsche Theorien über die Entstehung der Tiden kursieren, hier ein kleiner Abriss, wie diese beiden „Beulen“ sowohl im Meer als auch an Land entstehen:
Betrachten wir die Erde zunächst nur im „System Erde – Mond“ mit der Drehung von Mond und Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt, ohne die Rotation der Erde um die eigene Achse. Also ungefähr so, als wären sie an unterschiedlichen Enden einer sich drehenden Stange befestigt. Es wirken in diesem System sowohl die gegenseitigen Anziehungskräfte als auch die Fliehkraft: Die Anziehungskräfte sind bildlich gesprochen die Stange, die Erde und Mond zusammenhält. Die Fliehkraft sorgt dafür, dass beide Körper an ihrem Ende der Stange bleiben und nicht in die Mitte rutschen. In diesem System heben sich am Ansatzpunkt unserer hypothetischen Stange im Erdmittelpunkt Anziehungskraft und Fliehkraft auf. Der Drehpunkt des Systems liegt aufgrund der ungleichen Masseverhältnisse nur etwa 4.600 Kilometer vom Erdmittelpunkt und damit noch unterhalb der Erdoberfläche. Die Fliehkraft ist in diesem System überall auf der Erde gleich und weist vom Mond weg.
Da sich die Anziehungskraft aber mit der Entfernung verändert, wirkt auf jeden Punkt der Erde bei gleicher Fliehkraft eine etwas andere Anziehungskraft – auf der mondnahen Seite stärker als auf der mondfernen Seite. Die Kräfte, die die Gesteins- und Wassertiden hervorrufen, ergeben sich, wenn man die Anziehungskraft am gesuchten Ort und die Fliehkraft addiert. Daraus resultiert ein Differenz-Vektor, der Richtung und Stärke der tideverursachenden Kraft angibt. Dieser Vektor weist auf der mondnahen Seite zum Mond und vom Erdmittelpunkt weg, da hier die Anziehungskraft größer ist als die Fliehkraft. Auf der mondabgewandten Seite ist die Fliehkraft größer, daher weist dort der Vektor vom Erdmittelpunkt aber auch vom Mond weg. So kommt es, dass sich im Zusammenspiel von Anziehungskraft und Fliehkraft sowohl auf der mondfernen als auch auf der mondnahen Seite ein Flutberg ausbildet.
Drehung unter den Tidenbergen
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Versetzen wir die Erde jetzt gedanklich in Drehung um sich selbst, wird klar, dass sie sich unter den beiden Tidenbergen hinwegdreht. Da sie von der Erde bei ihrer Drehung ein Stück mitgenommen werden, liegen die Tidenberge nicht genau auf der Achse Mond-Erde, sondern etwas in Drehrichtung der Erde versetzt. Da die Masse des Mondes aber auch auf die Masse der Tidenberge wirkt, zieht der Mond sie zurück. So wird die Drehgeschwindigkeit der Erde auf Dauer gebremst. Irgendwann wird daher die Erde für eine Drehung um die eigene Achse genauso lange brauchen, wie der Mond für eine Umkreisung der Erde – ein Erdtag würde dann einem Mond-Monat entsprechen. Dann würde auch die Erde dem Mond immer dieselbe Seite zeigen. Ihn hat die Erde nämlich schon längst so weit heruntergebremst.
Diese Ausführungen geben nur einen Abriss, wie es dazu kommt, dass zwei entgegengesetzte Tidenberge entstehen. Um die wirklich vorhandenen Gezeitenerscheinungen, vor allem des Wassers vorherberechnen zu können, müssen noch tausende anderer Faktoren berücksichtigt werden. Die Sonne hat zum Beispiel einen großen Effekt, der auch bei den Erdgezeiten spürbar wird.
Wer sich noch genauer für die Erdgezeiten interessiert, der kann sich im Sonderband der Fachzeitschrift „Journal of Geodynamics", den Prof. Dr. Gerhard Jentzsch von der Universität Jena jetzt herausgegeben hat, informieren. Der Band enthält Arbeiten, die während des 15. Internationalen Symposiums über Erdgezeiten im August 2004 in Ottawa vorgestellt worden sind.
(Kirsten Achenbach / RCOM, 27.04.2006 – AHE)