Unterschätzter Effekt: Im kalten Nordosten Grönlands reagieren die Gletscher stärker auf den Klimawandel als bisher angenommen – mit Folgen auch für den globalen Meeresspiegel. Neuen Daten zufolge fließen die Eisströme selbst 200 Kilometer von der Küste entfernt inzwischen messbar schneller und haben mehrere Meter an Dicke verloren. Setzt sich dies fort, könnte diese Region Grönlands bis zum Jahr 2100 sechsmal mehr Eis verlieren als vorhergesagt. Allein dies würde die Meeresspiegel um bis zu 15,5 Millimeter zusätzlich anheben.
In Grönland liegt das zweitgrößte Eisreservoir der Erde – und eines der am schnellsten schwindenden. Schon jetzt beschleunigt sich der Eisverlust aus den grönländischen Gletschern stellenweise exponentiell, in Teilen könnte die Schmelze sogar schon unumkehrbar sein. Besonders betroffen sind bisher die Gletscher im Süden und Nordwesten Grönlands. Der kalte Nordosten galt dagegen lange als letzter stabiler Teil des grönländischen Eisschilds.
In den letzten Jahren zeigt jedoch auch der Nordostteil des grönländische Eisschilds erste Auflösungszeichen: Der Zachariae Isstrøm, einer der beiden großen Küstengletscher dieser Region, hat seit 2012 sein Fließtempo verdreifacht und seine Schmelzrate verdoppelt. Das Einzugsgebiet beider Gletscher zusammen umfasst rund zwölf Prozent des Eisschilds im Inneren Grönlands. Würde dieses Gebiet komplett abtauen, könnte dies den Meeresspiegel um 1,10 Meter anheben.
Wie weit reicht die Schmelze?
Doch bisher war unklar, ob der zunehmende Eisverlust nur die küstennahen Teile dieser Gletscher betrifft oder den gesamten, rund 600 Kilometer langen und 30 bis 50 Kilometer breiten nordostgrönländischen Eisstrom. „Die Modelle beruhen bisher vor allem auf den Beobachtungen von der Front dieses Eisstroms, die leicht zugänglich ist und wo sich erkennbar einiges tut“, erklärt Erstautor Shfaqat Abbas Khan von der Technischen Universität Dänemarks.
Um mehr Klarheit über das Ausmaß der Eisschmelze zu schaffen, haben Khan und sein Team die Daten mehrerer Eisbeobachtungssatelliten sowie von drei GPS-Stationen ausgewertet. Diese wurden 2016 an drei Stellen des nordöstlichen Eisstroms platziert und zeichnen seitdem auf, wie schnell das Eis fließt. Die Satellitendaten lieferten ergänzende Informationen zur Veränderung von Eisfluss und Eisdicke seit 2011.
Veränderungen bis ins Herz des Eischilds
Das Ergebnis: Im Nordosten Grönlands taut nicht nur das Eis der Küstengletscher, die Eisschmelze setzt sich mehr als 200 Kilometer weit ins Innere des Eisschilds fort. „Wir sehen, dass das Eis im gesamten Becken dünner wird und dass sich das Fließtempo beschleunigt“, berichtet Khan. Selbst 200 Kilometer von der Küste entfernt hat sich der Eisstrom seit 2011 um zwei bis drei Meter ausgedünnt. Nahe der Gletscherfront sind es bis zu 30 Meter.
„Das, was an der Gletscherfront passiert, reicht weit bis in das Herz des Eisschilds hinein“, sagt Khan. Auch das Eis im kalten Nordosten Grönlands reagiert demnach schon auf die zunehmende Erwärmung. „Das könnte bedeuten, dass der grönländische Eisschild sensibler auf die Veränderungen entlang der Küsten reagiert“, sagt Koautor Mathieu Morlighem vom Dartmouth College in den USA. „Wenn das stimmt, dann könnte die Eisdynamik mehr zum Eisverlust in Grönland beitragen als es gängige Modelle nahelegen.“
Verschärft wird der Eisverlust dadurch, dass der Nordosten Grönlands sehr trocken ist. Dort fallen stellenweise weniger als 25 Millimeter Niederschlag im Jahr, wodurch es an Schnee für den Eisnachschub fehlt. Das Eisschild kann sich in dieser Region daher kaum regenerieren und den Eisverlust nicht ausgleichen.
Meeresspiegel-Beitrag unterschätzt
Was dies konkret für die Zukunft und für die globalen Meeresspiegel bedeutet, haben Khan und sein Team mithilfe von hochauflösenden Modellsimulationen ermittelt. Geht man von den aktuellen Beobachtungen des Eisflusses aus, könnte demnach allein der nordostgrönländische Eisstrom bis zum Jahr 2100 sechsmal mehr Eis verlieren als bisher prognostiziert. Auf einer Fläche von mehr als 20.000 Quadratkilometern würde die Eisdicke dabei jährlich um zwei bis vier Meter abnehmen.
Die Folge: Allein durch den Eisverlust in dieser Region Grönlands würde der globale Meeresspiegel bis 2100 um zusätzliche 13,5 bis 15,5 Millimeter ansteigen. Dies entspricht dem gesamten grönländischen Beitrag zum Meeresspiegelanstieg der letzten 50 Jahre.
Nach Ansicht der Forschenden müssen die Prognosen des Weltklimaberichts daher vermutlich nach oben korrigiert werden. Denn es sei gut möglich, dass der Eisverlust und beschleunigte Eisabfluss auch in anderen Teilen des Eisschilds weiter nach innen reicht als angenommen. „Wir sehen profunde Veränderungen der globalen Meeresspiegel voraus, mehr als bisher von den Modellen vorhergesagt wurden“, sagt Koautor Eric Rignot von der University of California in Irvine. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-05301-z)
Quelle: Dartmouth College, Technical University of Denmark