Realität überholt Prognosen: Der grönländische Eisschild hat seit 1985 rund 20 Prozent mehr Eis verloren als es frühere Messungen und Modelle nahelegten, wie neue Analysen von Satellitendaten enthüllen. Der größte Teil des Eisschwunds erfolgte demnach erst in den letzten 20 Jahren, was den sich beschleunigenden Gletscherschwund bestätigt. Die Analysen zeigen auch, dass besonders anfällige Gletscher eine starke saisonale Veränderung ihrer Eisfronten aufweisen. Dies könnte Prognosen zur künftigen Entwicklung erleichtern, so das Forschungsteam in „Nature“.
Der Klimawandel hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einem massiven Rückgang der weltweiten Eisschilde geführt. Insbesondere der grönländische Eisschild, der zweitgrößte der Erde, ist seit den 1990er Jahren immer schneller geschmolzen. Und die Eisdecke schmilzt unaufhaltsam weiter. Besonders eindrucksvoll zu beobachten ist dies an den Gletscherrändern, wo das Eis während der Sommermonate auf den immer wärmeren Ozean trifft und ganze Eisberge abbrechen.
Ein Team um Chad Greene vom California Institute of Technology hat nun genauer untersucht, wo und wie stark sich die grönländische Eisdecke bisher zurückgezogen hat. Dafür werteten die Klimawissenschaftler Satellitenbilder aus den Jahren 1985 bis 2022 aus und markierten darauf monatlich die jeweiligen Fronten der Gletscher bis auf 120 Meter genau. Anhand dessen berechneten sie, wie viel Eis an den Gletscherrändern jeweils abbrach und wie viel insgesamt verloren gegangen ist.
Eisverlust umfassender als angenommen
Die Berechnungen ergaben, dass das Eisschild auf Grönland in den knapp vier Jahrzehnten seit 1985 insgesamt 5.091 Quadratkilometer an Eisfläche verloren hat. Diese Fläche entspricht umgerechnet einer Masse von 1.034 Gigatonnen Eis. Das seien 21 Prozent mehr als nach den bisherigen Modellen angenommen, betonen die Forschenden. Der Großteil dieses Eises ist erst in diesem Jahrtausend abgetaut: Bis zum Jahr 2000 verlor das Eisschild kaum an Fläche, seither jedoch schwinden jährlich im Schnitt 218 Quadratkilometer Eis.
Eine mögliche Ursache für die Diskrepanz zu früheren Messungen und Modellen sehen die Wissenschaftler darin, dass bisherige, landbasierte Messmethoden die auf das Meer hinausragenden Gletscherzungen nur in Teilen berücksichtigten. Weil diese aber vor allem an ihrer Unterseite Eis verloren haben, wurde dies in bisherigen Messungen nicht erfasst.
Vom Rückgang sind 179 der 207 untersuchten Gletscher in Grönland betroffen. Die restlichen blieben den Analysen zufolge stabil, nur der Qajuuttap Sermia-Gletscher in Südgrönland wuchs geringfügig. Zu den am stärksten vom Rückgang betroffenen Eisströmen zählen der Humboldt-Gletscher, der Jakobshavn Isbræ und der Zachariæ Isstrøm. Sie verloren 87, 88 beziehungsweise 160 Gigatonnen Eis.
Saisonale Schwankungen verraten Anfälligkeit
Bei den beiden großen Gletschern Jakobshavn und Zachariæ zeigte sich eine weitere Besonderheit: Sie zählen zu den Gletschern, die am stärksten von der sommerlichen Schmelze betroffen sind, und zeigen besonders große jahreszeitliche Schwankungen. „Das mit Abstand größte saisonale Signal beobachten wir am Jakobshavn Isbræ, der jedes Jahr um 16,8 Kilometer schrumpft und wieder wächst“, berichtet das Team. Der Massenunterschied zwischen dem sommerlichen Eisminimum und dem winterlichen Maximum liegt bei 13,6 Gigatonnen.
„Dabei zeigt sich ein auffallendes Muster: Die Gletscher, die das größte jahreszeitliche Vorrücken und Zurückziehen aufweisen, haben sich seit 1985 auch insgesamt stärker zurückgezogen“, schreiben Greene und seine Kollegen. Sie schließen daraus, dass saisonale Unterschiede im Gletschervolumen ein zuverlässigerer Marker für langfristige Eisrückgänge sein könnten als andere Parameter wie etwa Dicke und Breite eines Gletschers oder seine Fließgeschwindigkeit. Mit saisonalen Daten könnten sich daher die aktuellen Prognosemodelle für Grönland verbessern lassen. Sie geben Aufschluss darüber, welche Gletscher am anfälligsten für Klimaveränderungen sind.
„Bisher gab es viele lokale Studien“, sagt Co-Autor Alex Gardner vom NASA Jet Propulsion Laboratory. „Unsere Studie bietet nun eine systematische und umfassende Sichtweise, die zu einigen ziemlich bedeutsamen neuen Erkenntnissen über das Eisschild geführt hat.“
Eisverlust mit weltweiten Folgen
Der errechnete Gletscherverlust hat wahrscheinlich massive Folgen für das Weltklima, wie die Forschenden berichten. Demnach könnte das geschmolzene Eis als Süßwasser die Muster der globalen Meeresströmungen beeinflussen – vor allem im Atlantik – und verändern, wie sich Salz und die Energie aus marinen Hitzewellen über den Planeten verteilt. Das wirkt sich wiederum auf das Wetter und die Nahrungssicherheit an Land aus.
Auf den Meeresspiegel haben die zusätzlich errechneten glazialen Wassermassen von den Gletscherrändern hingegen bislang nur einen geringen Einfluss. „Der Grönländische Eisschild fließt an seinen Rändern durch tief eingeschnittene Fjorde, in denen der Großteil des Gletschereises nahe den Kalbungsfronten bereits unterhalb des Meeresspiegels liegt und somit schon ein entsprechendes Volumen an Meerwasser verdrängt“, erklärt Johannes Feldmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der an der Studie nicht beteiligt war.
„Das ist ähnlich wie beim Eiswürfel im Wasserglas, dessen Schmelzen den Füllstand des Glases nicht verändert.“ Doch wenn ein Kipppunkt überschritten wird und das gesamte Eisschild an Land schmilzt, würde der Meeresspiegel um bis zu sieben Meter steigen. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-023-06863-2)
Quelle: Nature, NASA Jet Propulsion Laboratory