Rasanter Schwund: Der grönländische Eisschild schmilzt immer schneller. Bohrkernanalysen zeigen, dass der Eisverlust nicht linear verläuft, sondern exponentiell zugenommen hat. Demnach hat Grönland in den vergangenen Jahren so viel Eis verloren wie in keinem anderen vergleichbaren Zeitraum der letzten 350 Jahre. Der Grund: Das Eis reagiert heute viel sensibler auf Temperaturanstiege als früher, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Grönland ist das zweitgrößte Eisreservoir auf unserem Planeten – doch dieses Bollwerk der Kälte schrumpft. Auf der Oberfläche des Eisschilds sind heute zahlreiche Schmelzwassertümpel zu erkennen, die in einer Kettenreaktion die Gletscher destabilisieren und die Eisriesen schmelzen lassen. Dadurch büßt der Eisschild seit Jahren an Masse ein. Jährlich fließt dabei mindestens so viel Schmelzwasser ab wie in fünf Bodenseen passt.
Forscher bringen dieses Phänomen gemeinhin mit der zunehmenden Erderwärmung in Verbindung. Doch sind die aktuellen Schmelzraten des grönländischen Eisschilds wirklich so ungewöhnlich? Oder gab es solche Phasen bereits, bevor der Mensch begann, das Klima in erheblichem Maße zu beeinflussen?
„Jahresringe“ im Eis
Um diese Fragen eindeutig beantworten zu können, fehlte es bisher an den notwendigen Daten. Denn Satellitenaufnahmen von Grönland existieren erst seit den späten 1970er Jahren – und der Eisschild selbst wurde bislang nur stichprobenartig auf Hinweise zum historischen Schmelzgeschehen untersucht. Nun aber haben Luke Trusel von der Woods Hole Oceanographic Institution und seine Kollegen mithilfe des Eises deutlich weiter und umfassender zurück in die Vergangenheit geblickt: bis ins Jahr 1650.
Für ihre Studie bohrten die Wissenschaftler tief ins Eis Grönlands. Dabei nahmen sie ihre Proben aus Höhen von rund 1.800 Metern über dem Meeresspiegel. Der Grund: In diesen Lagen gefriert schmelzendes Eis im Sommer meist wieder, bevor es abfließen kann. Dadurch entstehen im Eis charakteristische Schichten, die wie die Jahresringe von Bäumen Geschichten erzählen können. So lässt die Dicke dieser eisigen Bänder Rückschlüsse auf das Ausmaß der Eisschmelze zu bestimmten Zeitpunkten zu.
Auslöser Industrialisierung
Vergleiche mit Satellitendaten und Klimamodellen zeigten, dass die jährlichen Schmelzschichten nicht nur Auskunft über das Schmelzgeschehen an den beprobten Stellen geben. Stattdessen spiegeln die Bohrkerne sehr gut die Situation in ganz Grönland wieder. Dies ermöglichte dem Team schließlich, seine Ergebnisse auf andere Bereiche des Eisschilds zu übertragen – auch auf die tieferliegenden Bereiche, in denen das Schmelzwasser schneller abfließt und so zum Meeresspiegelanstieg beiträgt.
Dabei zeichnete sich ab: Mitte der 1800er Jahre begann das Eis in Grönland plötzlich stärker zu schmelzen als zuvor. Damit fällt dieses Ereignis ungefähr mit den Anfängen der Industrialisierung zusammen, wie Trusel betont: „Die Schmelze begann zuzunehmen, als wir anfingen, die Atmosphäre zu verändern.“
Weitere Verschärfung
Dieser Trend verschärfte sich dann im 20. und 21. Jahrhundert immer weiter, wie die Auswertungen offenbarten. Die letzte im Eis dokumentierte Phase – der Zeitraum zwischen 2004 und 2013 – war demnach von einer so anhaltenden und intensiven Eisschmelze geprägt wie kein anderer analysierter Zehn-Jahres-Zeitraum.
„Insgesamt hat die Menge des abfließenden Schmelzwassers seit dem Beginn des Industrie-Zeitalters um 50 Prozent zugenommen, einen Anstieg um 30 Prozent verzeichnen wir dabei allein seit dem 20. Jahrhundert“, berichtet Trusels Kollegin Sarah Das. Ein Ende dieser Entwicklung sei bislang nicht abzusehen.
Exponentielle Zunahme
Und noch etwas Besorgniserregendes stellten die Forscher fest: Die Zunahme der Schmelze verläuft entgegen der Erwartungen nicht linear mit dem Temperaturanstieg. Vielmehr scheint das Eis in den letzten Jahren anfälliger geworden zu sein, sodass bereits eine geringere weitere Erwärmung drastische Folgen haben kann. „Schon kleine Veränderungen der Temperatur haben jüngst zu einer exponentiellen Zunahme der Schmelze geführt“, berichtet Das. „Grönland reagiert heute viel sensibler auf Temperaturanstiege als noch vor 50 Jahren“, ergänzt Trusel.
Nach Ansicht des Teams belegen diese Ergebnisse, dass die aktuellen Schmelzraten tatsächlich mehr als ungewöhnlich sind – und der Mensch einen erheblichen Anteil daran hat. „Die Eisschmelze in Grönland hat den Turbogang eingelegt. Als Ergebnis trägt das Schmelzwasser heute stärker zum Anstieg des Meeresspiegels bei als zu jedem anderen Zeitpunkt der letzten 350 Jahre“, konstatiert Trusel.
Treiber des Meeresspiegelanstiegs
Schon heute ist der grönländische Eisverlust einer der Haupttreiber des Meeresspiegelanstiegs. Doch wenn das Eis auch in Zukunft in diesem beispiellosen Ausmaß schmilzt, könnte es das ohnehin schon schnelle Tempo des Meeresspiegelanstiegs noch weiter beschleunigen, so das Fazit der Wissenschaftler. (Nature, 2018; doi: 10.1038/s41586-018-0752-4)
Quelle: Nature Press/ Woods Hole Oceanographic Institution