Ein Drittel Europas liegt unter Wasser verborgen und ist zudem unerforschtes Niemandsland. Über 15.000 Kilometer erstrecken sich Europas Kontinentalränder, von der Arktis bis nach Spanien, im Mittelmeer bis hin zum Schwarzen Meer. Nun sollen diese möglicherweise auch wirtschaftlich nutzbaren Regionen in dem europaweiten Großprojekt HERMES erforscht werden. Mit „im Boot“ ist der Lehrstuhl für Paläontologie der Universität Erlangen-Nürnberg.
Das unterseeische Gebiet, das im Visier der Forscher liegt, befindet sich fast vollständig innerhalb der Exclusive Economic Zone (EEZ), der Wirtschaftszone, die den Europäern vorbehalten ist. Es liegt deshalb im Interesse der Staaten dieses Kontinents, das kaum erforschte Reich unter Wasser und seine Gesetzmäßigkeiten kennenzulernen, um Nutzen daraus ziehen zu können, aber auch, um die Reservoirs der Tiefsee vor Raubbau und Zerstörung zu schützen.
Canyons als Kinderstuben
Das Untersuchungsinteresse ist auf vier Typen von „Hotspots“ ausgerichtet, unterschiedlich aufgebaute Ökosysteme, von denen zumeist noch sehr wenig bekannt ist. In Canyons, tiefen Einschnitten in die Kontinentalplatten, unterhalten Tiefseefische höchstwahrscheinlich ihre Kinderstuben. Von der Anpassungsfähigkeit von Mikroben, die ohne Sauerstoff an heißen Gaskaminen, Schlammvulkanen oder Methanaustritten existieren können, profitieren andere Lebensgemeinschaften. An vermeintlich lebensfeindlichen Orten wird so Biomasse in erstaunlich hohem Ausmaß produziert.
Kalte Korallen
Sehr viel weiter verbreitet als angenommen sind nach neueren Entdeckungen die von Kaltwasserkorallen gebildeten Riffe in der Tiefsee, auf die Freiwald seine Arbeit vorwiegend konzentriert. Dadurch werden Vergleiche zwischen nährstoffreichen und -armen Varianten der als CO2-Speicher und „Klima-Archiv“ bedeutsamen Korallenriffe möglich. Um übergreifende Zusammenhänge erfassen zu können, werden außerdem Ökosysteme einbezogen, die auf den abfallenden Hängen der Kontinentalränder siedeln. Dazu gehört die Erforschung instabiler Hänge, deren großräumiger Abrutsch für die Meeresbewohner ebenso katastrophal ausfallen kann wie für Off-shore-Einrichtungen oder die Anrainer an den Küsten.
Gemeinschaftsprojekt
Das Projekt „Hotspot Ecosystem Research on the Margins of European Seas“ (HERMES) wird am 1. April 2005 anlaufen. 45 Partner aus 15 europäischen Ländern sind beteiligt. Die Erforschung der biologischen, energetischen und mineralischen Ressourcen der Kontinentalränder erfolgt im 6. Rahmenprogramm der EU. Die Forschungsarbeiten sind international und interdisziplinär angelegt: Biologen und Biochemiker, Geowissenschaftler und Ozeanologen müssen zusammenwirken, um Struktur und Dynamik von Ökosystemen in der Tiefsee ebenso wie den Einfluss und Verlauf physikalischer Prozesse von Grund auf zu begreifen. Den mit erdgeschichtlichen Entwicklungen verbundenen Wandel von den Folgen menschlicher Aktivitäten zu unterscheiden, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Projekts.
Dass Europas Ländereien unter dem Meeresspiegel neuerdings so viel Aufmerksamkeit wecken, wäre ohne die Technik nicht denkbar, die diese Region erst zugänglich macht. U-Boote, Unterwasserkameras, autonom agierende Fahrzeuge und Roboter mit Fernsteuerung öffnen den Menschen den Einblick in eine Welt, die schwieriger zu erreichen war als der Mond. Das nur in einigen Staaten der Gemeinschaft vorhandene modernste Instrumentarium steht nun allen zur Verfügung, die sich am Projekt beteiligen.
(idw – Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 28.02.2005 – AHE)