Ein internationales Forscherteam hat die Heimat der indoeuropäischen – häufig auch indogermanisch genannten – Sprachen identifiziert: Die riesige Sprachfamilie mit heute etwa 400 Sprachen stammt ursprünglich aus Anatolien in der heutigen Türkei. Von dort hat sie sich vor ungefähr 9.000 Jahren mit der aufblühenden Landwirtschaft über Asien und Europa ausgebreitet. Dieses Ergebnis stärkt eine der beiden gängigen Theorien zum Ursprung der indoeuropäischen Sprachen. Die andere, nach der die Sprachfamilie ursprünglich aus der russischen Steppe stammt, erscheine nach den Daten der aktuellen Analyse als äußerst unwahrscheinlich, sagt Studienleiter Quentin Atkinson von der University of Auckland. Er und seine Kollegen hatten für ihre Untersuchung eine Methode eingesetzt, mit der sonst genetische Informationen analysiert werden. Über ihre Arbeit berichten sie im Fachmagazin „Science“.
Zwei streitbare Lager
Heute sprechen etwa drei Milliarden Menschen eine der indoeuropäischen Sprachen, zu deren Hauptzweigen die keltischen, die germanischen, die italischen sowie die balto-slawischen und die indo-iranischen Sprachen gehören. Wo allerdings die erste indoeuropäische Sprache erklang, ist äußerst umstritten. Es gibt vor allem zwei große Lager, die sich gegenseitig heftig bekämpfen: Das erste vermutet den Ursprung in der russischen Steppe nördlich des kaspischen Meers, wo die Sprache von halbnomadisch lebenden Reitervölkern gesprochen worden sein soll. Ihre Verbreitung über Europa und Asien soll dieser These zufolge vor etwa 5000 bis 6000 Jahren begonnen haben. Die rivalisierende Theorie geht dagegen von einer sehr viel früheren Verbreitung aus, die bereits vor 8000 bis 9500 Jahren in Anatolien ihren Anfang nahm. In diesem Fall hätte die Ursprache zusammen mit der Landwirtschaft ihren Siegeszug über Europa und Asien angetreten.
Um die beiden Thesen auf den Prüfstand zu stellen, analysierten Atkinson und seine Kollegen 6000 sogenannte Kognate aus insgesamt 103 ausgestorbenen und noch existierenden indoeuropäischen Sprachen. Kognate sind Wörter, die sich aus einem gemeinsamen Ursprungsbegriff entwickelt haben, wie etwa die Begriffe „Mutter“, „mother“ und „madre“. Die Forscher konzentrierten sich auf 200 sehr grundlegende Bedeutungen, wie eben Mutter, Vater, Feuer, Wasser oder Verben wie laufen und gehen, und analysierten deren Entwicklung. Außerdem fütterte das Team sein Analyse-Programm mit geografischen Daten zur Verbreitung der verschiedenen Sprachen. Daraus entwickelte der Computer verschiedene mögliche Stammbäume der indoeuropäischen Sprachfamilie, die sowohl zeitliche als auch räumliche Informationen enthielten.
Modell deutet auf anatolische Heimat
Dieses Vorgehen wird normalerweise eingesetzt, um den Ausbruch von Viruserkrankungen wie Influenza oder Tollwut anhand der genetischen Information des Erregers nachzuvollziehen, erläutert Atkinson. Doch auch im vorliegenden Fall führte es zu einer sehr klaren Tendenz: Die möglichen Stammbäume verorteten die Ursprache in der überwältigenden Mehrheit der Fälle in Anatolien und datierten sie zudem auf eine Zeit weit vor der in der Steppentheorie angenommenen Entstehungszeit. Demnach lautet auch das Fazit der Forscher: Die Steppentheorie ist im Vergleich zur Anatolien-These sehr unwahrscheinlich.
Allerdings gibt es auch Kritik an der Studie. Der amerikanische Archäologe David Anthony vom Hartwick College in Oneonta, Staat New York, moniert ebenfalls in „Science“ beispielsweise, dass sich die Wissenschaftler lediglich auf Wörter konzentriert hätten – und Sprachstruktur, Grammatik und ähnliches ignorierten. Zudem gebe es wirklich sehr gute archäologische Belege, die auf einen Ursprung der Sprachfamilie in der russischen Steppe hindeuteten. Diese seien von Atkinson und seinem Team ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Vollständig lösen können wird die neue Studie den alten Streit daher wohl nicht, auch wenn sie, wie der Sprachforscher Paul Heggarty vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig kommentiert, die Anhänger der Steppen-Hypothese an einigen Stellen durchaus in Erklärungsnot bringe. (doi: 10.1126/science.1219669)
(Science, 24.08.2012 – ILB)