Privileg der Elite: Für die Eliten der steinzeitlichen Megalith-Kultur war Inzest offenbar kein Tabu – im Gegenteil. Ähnlich wie die ägyptischen Pharaonen könnten sie ihren Herrschaftsanspruch durch Geschwisterehen gestützt haben. Belege dafür liefert nun ein Toter aus dem berühmten Ganggrab von Newgrange in Irland. Den DNA-Analysen zufolge waren seine Eltern entweder Geschwister oder Elternteil und Kind, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Ob Stonehenge, Dolmen oder Ganggräber: In der Zeit vor 6.500 bis 4.500 Jahren entstanden in Westeuropa tausende von monumentalen Stein-Heiligtümern und Grabanlagen. Viele dieser Bauten sind nach astronomischen Bezügen hin ausgerichtet und dienten wahrscheinlich rituellen Zwecken. Archäologen gehen davon aus, dass diese Megalith-Kultur von steinzeitlichen Seefahrern entlang der Küsten verbreitet wurde.
Eines der berühmtesten Bauwerke dieser Ära ist das Ganggrab von Newgrange. Diese rund 5.000 Jahre alte Grabanlage umfasst einen rund 90 Meter großen Hügel aus Steinen und Erde, unter dem ein langer, schmaler Gang zu einer kreuzförmigen Grabkammer führt. Der Gang ist so ausgerichtet, das nur zur Wintersonnenwende ein Sonnenstrahl direkt auf den verzierten Altarbock dieser Kammer führt.
Schädelfund im Ganggrab
In der Grabkammer von Newgrange haben Archäologen schon vor einigen Jahren mehrere verbrannte und unverbrannte Menschenknochen gefunden, außerdem den Schädel eines erwachsenen Mannes. Sein Fundort im Herzen des monumentalen Ganggrabes spricht dafür, dass er ein Vertreter der damaligen Elite war – ein Angehöriger der hochrangigen Herrscher- oder Priesterkaste, für die diese Bauten einst errichtet wurden.
Doch dieser Mann hat noch eine Besonderheit, wie nun Forscher um Lara Cassidy vom Trinity College in Dublin herausgefunden haben. „Zu der herausragenden Position dieser Relikte passt ein genetisches Erbe, das für alte DNA einzigartig ist“, so die Wissenschaftler. Denn als sie das Erbgut aus dem steinzeitlichen Schädel sequenzierten, entdeckten sie Ungewöhnliches: „So etwas habe ich noch nie gesehen“, berichtet Cassidy.
DNA belegt elterlichen Inzest
Das Überraschende daran: Die DNA des Mannes von Newgrange zeigte klare Anzeichen von Inzest. In einem Viertel seines Genoms stimmten die jeweils von Mutter und Vater geerbten DNA-Sequenzen völlig überein. „Das ist ein eindeutiges Indiz für starke Inzucht. Unsere Analysen zufolge müssen seine Eltern Verwandte ersten Grades gewesen sein“, so Cassidy. Seine Eltern waren demnach entweder Bruder und Schwester oder ein Elternteil war das Kind des anderen.
Ein solcher Inzest jedoch war selbst in der Steinzeit mit einem starken Tabu belegt. „Die einzigen bekannten Ausnahmen von diesem Tabu sind Geschwisterehen in bestimmten Eliten – dieses Phänomen wird deshalb auch als royaler oder dynastischer Inzest bezeichnet“, erklären die Wissenschaftler. Solche Geschwisterehen waren beispielsweise bei den ägyptischen Pharaonen und bei den Gottkönigen der Inka üblich.
Geschwisterehe als Herrscher-Privileg
Nach Ansicht der Forscher legt dies nahe, dass auch der Tote aus dem Ganggrab von Newgrange einer solchen Herrscherkaste angehörte. „Das Prestige dieses Begräbnisses lässt vermuten, dass dies eine sozial akzeptierte Beziehung war“, sagt Cassidy. „Das spricht von einer extremen Hierarchie, bei der nur Familienangehörige als würdige Partner galten.“ Der Inzest diente möglicherweise dazu, die „Blutlinie“ möglichst unverwässert zu erhalten und so die herausgehobene Stellung zu legitimieren.
Zu dieser Annahme passt eine lokale Legende aus dem Mittelalter. Diese erzählt von einem königlich-göttlichen Erbauer, der den täglichen Lauf der Sonne durch Kopulation mit seiner Schwester in Gang setzte. Noch heute erinnert der altirische Name eines benachbarten Ganggrabes an diesen Mythos: Er heißt Fertae Chuile – Hügel der Sünde oder des Inzests.
„Dass wir jetzt eine mögliche prähistorische Wurzel dieser Inzest-Legende gefunden haben, ist wirklich außergewöhnlich“, sagt Cassidys Kollege Ros O Maolduin.
Elitäres Verwandten-Netzwerk
Doch der Inzest-Nachkomme aus Newgrange ist nicht der einzige, der von einer Art Herrscherkaste im jungsteinzeitlichen Irland zeugt. Cassidy und ihr Team haben noch 43 weitere Tote aus irischen Ganggräbern und Grabhügeln einer DNA-Analyse unterzogen – und wurden auch dabei fündig: In zwei Ganggräber-Anlagen rund 150 Kilometer westlich von Newgrange stießen sie auf Gebeine, die von Verwandten dieses Mannes stammten.
„Es scheint, dass es hier eine mächtige, weitverbreitete Gruppe von Verwandten gab, die mindestens ein halbes Jahrtausend lang Zugang zu den Grabstätten der Eliten hatte“, sagt Cassidy. Dieses elitäre Verwandten-Netzwerk verknüpft die beiden älteren Ganggräber mit der Anlage von Newgrange und mit einem weiteren, eher untypischen Megalith-Bau in Millin Bay an der irischen Nordostküste. „Damit demonstrieren unsere Funde familiäre Bande zwischen mehreren der größten Zentren der Megalith-Kultur“, so die Forscher.
Insgesamt ergibt sich damit das Bild einer Gesellschaft, in der eine vom restlichen Volk abgehobene Herrscherkaste auch bei der Partnerwahl unter sich blieb. Sie bahnten ihre Beziehungen über weite Entfernungen hinweg an und bevorzugten dabei offensichtliche Verwandte. Damit war dies quasi der „blaublütige Adel“ der irischen Jungsteinzeit. (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-020-2378-6)
Quelle: Trinity College Dublin