Mysteriöser Toter: Eine Rekonstruktion hat der berühmten Mumie KV55 aus dem Tal der Könige jetzt ein neues Gesicht verliehen – aber ihre Identität bleibt rätselhaft. Denn genetischen Analysen zufolge könnte es sich zwar um den leiblichen Vater von Tutanchamun handeln, doch für Pharao Echnaton ist dieser Tote eigentlich zu jung, wie die neuen anthropologische Untersuchungen bestätigen: Er starb bereits mit Anfang 20.
Sie sind die wahrscheinlich berühmteste Familie des alten Ägypten: Echnaton, Nofretete und ihr jung gestorbener Nachfolger Tutanchamun. Während aber das Grab von Tutanchamun schon vor gut 100 Jahren entdeckt wurde, ist der Verbleib von Echnaton und Nofretete bislang unklar. Nach einer Mumie der Königin suchen Archäologen bis heute, bei ihrem Gatten ist die Lage komplizierter: Schon im Jahr 1907 stießen Ausgräber im Grab KV55 auf mehrere Mumien, von denen eine die Signatur Echnatons auf der Umwickelung trug. Auch einige Grabbeigaben waren mit seinem Namen gekennzeichnet.
Im Jahr 2010 ergaben DNA-Analysen, dass eine der weiblichen Mumien aus KV55 die Mutter, eine der männlichen Mumien dagegen ein Sohn von Amenophis III. und der leibliche Vater von Tutanchamun gewesen sein muss. Das legt nahe, dass es sich bei diesem Toten um Echnaton handelt. Das Problem jedoch: Knochenanalysen nach ist dieser Mann bereits mit Mitte 20 gestorben, während Echnaton den historischen Daten nach erst mit 18 bis 20 den Thron bestieg und dann noch mindestens 17 Jahre herrschte.
Anthropologische Daten bestätigen frühen Tod
Wer also ist dieser Mann, der offenkundig Tutanchamuns Vater war? Um mehr darüber herauszufinden, haben Francesco Galassi und sein Team vom FAPAB-Forschungszentrum in Sizilien die anthropologischen Merkmale der rätselhaften Mumie erneut analysiert. Auf Basis dieser Daten kommen auch sie zu dem Schluss, dass dieser Mann jung gestorben sein muss. „Vor allem angesichts der Verwachsungsstadien der Epiphysen und der Schambeinfuge erscheint ein Alter zwischen 19 und 22 Jahren als wahrscheinlich“, so die Forscher.
Nach Ansicht von Galassi und seinen Kollegen schließt dies aber nicht unbedingt aus, dass es sich trotzdem um Echnaton gehandelt haben könnte. Denn einige Ägyptologen vermuten, dass der Pharao möglicherweise schon als Minderjähriger zum Mitregent seines Vaters wurde. Allerdings wirft dies die Frage auf, wie Echnaton schon zu Beginn seiner Regentschaft seinerseits eine Tochter zeugen konnte.
Gesichtszüge unscheinbarer als bei den Echnaton-Statuen
Um mehr Aufschluss über das mögliche Aussehen diese Mannes zu erhalten, engagierte das Team Cicero Moraes, einen renommierten Experten für die forensische Gesichtsrekonstruktion. Dafür wird der Schädel als Basis genommen, auf der dann Muskeln, Fettgewebe und Haut gemäß anatomischer Gesetzmäßigkeiten modelliert werden. „In unserer Rekonstruktion verzichten wir bewusst auf Schmuck oder Haare und konzentrieren uns völlig auf das Gesicht“, so das FAPAB-Forscherteam.
Das Ergebnis zeigt das Antlitz eines jungen Mannes mit eckigem Kinn, einer eher schmalen Gesichtsform und ausgeprägter Nase. Auf den ersten Blick ähnelt er damit den erhaltenen Statuen von Echnaton nur in Teilen, denn diese zeigen den Pharao übereinstimmend mit deutlich markanteren Gesichtszügen – was allerdings der künstlerischen Freiheit geschuldet sein könnte. „Diese Gesichtsrekonstruktion erweckt eine der umstrittensten und wichtigsten Mumien der Weltgeschichte wieder zum Leben – zumindest metaphorisch“, so das FAPAB-Forscherteam.
War es doch Semenchkare?
Sollte es sich bei der Mumie KV55 nicht um Echnaton handeln, dann könnte dieses Gesicht sogar einem noch rätselhafteren Familienmitglied des Echnaton-Clans gehören: Semenchkare. Dieser in nur wenigen Inschriften erwähnte Pharao könnte nach Ansicht einiger Ägyptologen einige Jahre lang der Nachfolger Echnatons gewesen sein, bis dann der junge Tutanchamun Pharao wurde.
Allerdings ist völlig unklar, wie Semenchkare mit den beiden verwandt war. Sollte die Mumie KV55 sich als seine Überreste erweisen, dann könnte Semenchkare ein jüngerer Bruder Echnatons gewesen sein, denn der DNA zufolge handelt es sich klar um einen Sohn von Echnatons Vater Amenhotep III. Wegen der bei den ägyptischen Pharaonen üblichen Inzucht und Geschwisterehen ist die genetische Entschlüsselung ihrer Verwandtschaftsverhältnisse allerdings schwierig.
Hinzu kommt, dass einige Ägyptologen die Existenz von Semenchkare bezweifeln. Sie gehen stattdessen davon aus, dass Nofretete nach dem Tod Echnatons einige Jahre lang unter diesem männlichen „Pseudonym“ regierte. Belege fehle jedoch für diese Annahme ebenso wie für die Bruder-Hypothese. Die Identität des Toten aus KV55 bleibt damit vorerst rätselhaft.
Quelle: Forensic Anthropology, Paleopathology, Bioarchaeology Research Center (FAPAB)