Kein Kriechen mehr: Seismische Analysen bestätigen, dass die Plattengrenze in der Nähe der Millionenstadt Istanbul blockiert ist. Zwar bewegen sich die Erdplatten im westlichen Marmarameer noch kriechend aneinander vorbei, nicht aber im östlichen Teil. Dort, direkt südlich von Istanbul, sind die Platten komplett ineinander verhakt, wie die neuen Daten bestätigen. Wenn es dort zum Bruch der Verwerfung kommt, wäre ein Starkbeben bis Magnitude 7,4 sehr wahrscheinlich.
Die 16-Millionen-Stadt Istanbul sitzt auf einem seismischen Pulverfass: Direkt südlich der Metropole liegt ein Hauptast der Nordanatolischen Verwerfung – eine aktive Plattengrenze, an der sich anatolische und eurasische Erdplatte gegeneinander verschieben. Wenn sich die Platten dabei ineinander verhaken, entlädt sich die aufgestaute Spannung in Erdbeben. Ein solcher Spannungsherd liegt südlich von Istanbul im östlichen Marmarameer: Dort ist ein 150 Kilometer langer Abschnitt der Marmara-Hauptverwerfung seit 1766 nicht mehr gebrochen – ein Erdbeben ist überfällig.
Fahndung nach „Repeater“-Beben
Wie stark die Verwerfung unter dem Marmarameer blockiert ist, haben nun Forschende um Dirk Becker vom Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ) anhand neuer, hochaufgelöster seismologischer Daten aus den letzten 15 Jahren untersucht. Darin suchten sie mithilfe computergestützter Auswertemethoden nach dem Signal von sogenannten seismischen Repeatern. Diese Erschütterungen entstehen, wenn sich tektonische Platten „kriechend“ und aseismisch aneinander vorbeibewegen.
Dabei wird das Gestein in dieser Kriechzone unter dem enormen Druck zu Gesteinsmehl zermahlen, das wie eine Art Schmiermittel wirkt. In diesen Kriechzonen gibt es jedoch spröde Bereiche, die dabei wiederholt brechen. Dadurch kommt es an exakt der gleichen Stelle immer wieder zu Schwachbeben mit gleicher Wellenform und ähnlicher Stärke. Diese seismischen Repeater sind damit Indikatoren für kriechende Bereiche – an komplett verhakten und blockierten Segmenten treten sie nicht auf.
Mithilfe des computergestützten „Template Matching“ konnten die Forschenden diese Repeater-Beben in den seismischen Daten der Marmara-Hauptverwerfung identifizieren und von normalen Beben unterscheiden. Dies erlaubt eine genauere Einschätzung des Risikos für Istanbul.
Kriechen im Westen, Blockade bei Istanbul
Das Ergebnis: „Auffallend ist, dass alle Repeater-Sequenzen im westlichen Teil der Marmara-Hauptverwerfung auftreten: 13 Sequenzen im zentralen Becken und sieben im westlichen Hoch und im Tekirdag-Becken“, berichten Becker und seine Kollegen. „Im zentral-östlichen Bereich wurden nur drei Sequenzen identifiziert – und südlich von Istanbul entlang der Prinzeninseln gar keine.“
Dies bestätigt, dass sich die Platten im Weststeil des Marmarameeres noch kriechend aneinander vorbeibewegen. Dies baut einen Teil der Spannung ab, die durch die Plattenbewegung verursacht wird. Doch im Gebiet südlich von Istanbul ist selbst diese kriechende Bewegung der Verwerfung blockiert. „Der Kriechanteil verringert sich ostwärts systematisch. Dort sind die Abschnitte der Marmara-Verwerfung dann vollständig verhakt“, erläutert Becker. Ebenfalls blockiert ist ein Stück der Ganos-Verwerfung, eines Abschnitts der Plattengrenze, der jenseits der Marmarameeres im Westen liegt.
Starkbeben bis Magnitude 7,4 möglich
Diese Ergebnisse bestätigen die akute Gefahr für Istanbul. Denn wenn es zum großen Bruch der Verwerfung und zum Starkbeben kommt, wird dies nach Einschätzung der Seismologen am ehesten in einem der blockierten Abschnitte der Verwerfung passieren – unmittelbar südlich von Istanbul oder weiter im Westen entlang der Ganos-Verwerfung. Die Folge könnte ein Starkbeben bis zur Magnitude 7,4 in der Nähe von Istanbul sein oder aber ein Beben an der Ganos-Verwerfung mit sogar noch höheren Magnituden.
Es wäre aber noch ein weiteres Szenario denkbar: Die Plattengrenze könnte auch am Übergang zwischen kriechenden und blockierten Verwerfungsabschnitten aufreißen und von dort aus auf die blockierten Bereiche übergreifen, wie das Team berichtet. Für Istanbul würde dies bedeuten: Bricht die Verwerfung am Übergang vom zentralen zum östlichen Marmarameer, würde sich der Bruch nach Osten ausbreiten – direkt auf Istanbul zu. Die Millionenmetropole wäre dann direkt vom Starkbeben betroffen. Bricht dagegen der westliche Übergang von der Kriechzone zur Ganos-Verwerfung, könnte Istanbul glimpflich davonkommen. Dann wären Gebiete westlich des Marmarameeres betroffen.
Gefahr für Istanbul bleibt
Damit liefern die Ergebnisse genauere Einblicke in das seismische Geschehen der akut gefährdeten Region rund um das Marmarameer. „Die hier vorgelegte Studie liefert ein differenziertes Bild der Dynamik der Plattenbewegung an einer kritisch gespannten Verwerfung in unmittelbarer Nähe zu einer Megacity“, sagt Seniorautor Marco Bohnhoff vom GFZ. „Der systematische Übergang zwischen verhakten und kriechenden Segmenten ist in dieser Form weltweit einmalig.“
Leider bestätigen die neuen Daten aber auch, wie gefährdet Istanbul ist. „Die daraus abgeleiteten Szenarien für das bevorstehende ‚Istanbulbeben‘ sind essenziell für eine bessere Risikoabschätzung der Region und dem daraus abzuleitenden Maßnahmen für bestmöglichen Schutz der dortigen Bevölkerung“, sagt Bohnhoff. Es scheint demnach nur eine Frage der Zeit, bis sich die Spannung an der Marmara-Verwerfung entlädt. (Geophysical Research Letters, 2023; doi: 10.1029/2022GL101471)
Quelle: Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ