Die Entdeckung eines nahezu intakten, 3,3 Millionen Jahre alten Skeletts eines Vormenschenkindes hat nun eine entscheidende Lücke im Wissen um die Evolution des Menschen gefüllt. Das nur dreijährige Mädchen war ein Australopithecus afarensis und gehörte damit zur gleichen Art wie das berühmte Skelett „Lucy“. Vergleiche beider können nun wichtige Hinweise auf Fortbewegung und Kommunikationsfähigkeiten dieser afrikanischen Vormenschenart geben.
Wie Wissenschaftler eines internationalen Teams jetzt in der Zeitschrift „Nature“ berichten, wurde das Skelett 2001 im äthiopischen Dikkia von Zeresenay Alemseged, Leiter des Dikkia Forschungsprojekts und Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, gefunden. Seit fünf Jahren präparieren die Wissenschaftler die empfindlichen Knochenteile aus dem sie umgebenden Sandstein frei. Erhalten sind neben dem Schädel und Kieferknochen mit Zähnen auch Teile der Schultern, der Wirbelsäule, Rippen, der rechte Arm, die Beine und der linke Fuß.
Vergleich mit „Lucy“
“Es ist außerordentlich selten, ein so komplettes Skelett zu finden”, erklärt William Kimbel, Koautor der Studie und Paläoanthropologe der Arizona State Universität. „Ein so komplettes Skelett eines Kinds zu entdecken ist bisher einmalig.“ Die Analyse der Knochen könnte eine Reihe von offenen Fragen über die Entwicklung des Australopithecus afarensis klären helfen, wenn das Kinderskelett mit dem von „Lucy“ verglichen wird. Die 3,8 Millionen Jahre alten Überreste einer erwachsenen Autralopithecus-Frau wurde 1974 in der Hadar-Region Äthiopiens entdeckt.
Klettern oder Laufen?
Erste Auswertungen des Kinderskeletts zeigen, dass die untere Körperhälfte klar an eine zweibeinige Fortbewegung, den aufrechten Gang, angepasst ist. Der obere Körperbereich jedoch, insbesondere das Schulterblatt, zeigt noch einige Gorilla-ähnliche Züge. Einige Forscher argumentieren dafür, dass die affenähnlichen Eigenschaften der oberen Extremitäten zwar von einem gemeinsamen Vorfahren erhalten blieben, aber nicht funktional waren, andere dagegen halten die Strukturen durchaus für funktionsfähig und vermuten, dass die Art einige Zeit damit verbrachte, auf Bäumen zu klettern. „Ich glaube nicht, dass ein dreijähriges Kind viel Zeit auf Bäumen verbringt, aber die Mischung der Strukturen in diesem Skelett wird die Debatte über die Fortbewegung im frühen Australopithecus wieder anheizen“, so Kimbel.
Eher keine komplexe Sprache
Das neu entdeckte Skelett enthielt auch – zum ersten Mal bei einem frühen Vormenschen entdeckt – ein intaktes Zungenbein, den Knochen, der im Kehlkopf die beim Sprechen nötigen Muskeln von Zunge und Hals stützt. Das „Kind von Lucy“ besaß allerdings eine noch sehr primitive Ausgabe dieses Knochens. Er ähnelt mehr den Zungenbeinen von Affen als denen des Menschen. Wahrscheinlich haben sich daher auch die Lautäußerungen des „Kindes von Lucy“ nicht sehr von denen der Affen unterschieden.
Wachstum entscheidend
Den Anthropologen bietet das Kinderskelett einen extrem wertvollen Einblick in das Wachstum der Vormenschen – einem zentralen Punkt in den Mechanismen der Evolution der Menschheit: “Die meisten Unterschiede zwischen dem Menschen und seinen Vorfahren hängen mit Veränderungen in der Entwicklung zusammen“, erklärt Kimbel. Denn das genetische „Gerüst“ des Menschen ist dem unserer nahen Verwandten wie den Schimpansen so ähnlich, dass die meisten anatomischen Unterschiede durch Veränderungen im Wachstumsmuster vom Kind zum Erwachsenen erklärt werden können.
(Arizona State University/MPG, 21.09.2006 – NPO)