Geowissen

Klimawandel verschiebt Schaltsekunde

Wie die Eisschmelze die Erdrotation und unsere Weltzeit beeinflusst

Weltzeit
Die koordinierte Weltzeit gibt den globalen Takt vor. © Sergey Balakhnichev/ Getty images

Verblüffender Effekt: Unserer Weltzeit steht eine potenziell hochriskante Anpassung bevor – eine negative Schaltsekunde. Sie soll die schneller werdende Erdrotation ausgleichen. Doch dank des Klimawandels können wir diese noch nie zuvor gemachte Umstellung noch einige Jahre hinauszögern, wie ein US-Forscher entdeckt hat. Der Grund: Die verstärkte Eisschmelze der Polargebiete wirkt wie eine Bremse für die Drehung unseres Planeten. Daher wird die negative Schaltsekunde erst frühestens 2029 fällig.

Die koordinierte Weltzeit (UTC) ist die Referenz für alle Zeitangaben auf unserem Planeten. Ihre Basis bildet das extrem präzise Ticken von Atomuhren, in denen die Zustandswechsel von Cäsiumatomen den Takt vorgeben. Damit die Weltzeit mit unseren Tageslängen synchron bleibt, gleicht das Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM) sie zusätzlich mit der Erdrotation ab.

Erdrotation
Die Weltzeit muss immer wieder mit der Erdrotation synchronisiert werden – dazu dienen Schaltsekunden. © Emarto/iStock

Doch die Erddrehung bleibt nicht gleich: Durch den Einfluss des Mondes, des Erdkerns und Prozessen an der Erdoberfläche hat unser Planet seit der Ära der Dinosaurier seine Rotation verlangsamt. Die Tage wurden dadurch immer länger – zumindest bis vor knapp zehn Jahren. Um dies auszugleichen, wurden immer wieder Schaltsekunden eingefügt – die Silvesternacht war eine Sekunde länger. Seit 2016 jedoch hat sich dieser langfristige Trend umgekehrt: Die Erdrotation beschleunigt sich und eilt dem Takt der Weltzeit inzwischen sogar leicht voraus.

Brauchen wir bald eine negative Schaltsekunde?

Das Problem: Hält dieser Trend an, könnte eine negative Schaltsekunde fällig werden – zum ersten Mal in der Geschichte der Zeitmessung. An Silvester würde dann die Uhr von 23:59:58 Uhr direkt auf 00:00 Uhr umspringen. Doch für viele digitale Zeitmessungssysteme wäre das ein absolutes Novum: „Viele Systeme haben inzwischen Software, die eine zusätzliche Sekunde akzeptieren kann. Aber nur wenig, wenn überhaupt welche, erlauben das Ausfallen einer Sekunde“, erklärt Duncan Agnew von der University of California in San Diego. „Eine negative Schaltsekunde könnte daher viele Probleme bereiten.“

Aber wann wäre es so weit? Um das herauszufinden, hat Agnew noch einmal alle Einflussfaktoren auf die Erdrotation und ihre Entwicklung in den letzten Jahrzenten analysiert. Dabei ging es ihm vor allem darum, die Ursachen der aktuellen Beschleunigung zu klären – und ihre zukünftige Entwicklung abzuschätzen. Denn noch beläuft sich die Differenz zwischen Erdrotation und Weltzeit auf weniger als 0,03 Sekunden pro Jahr. Aber wie schnell addiert sich dies auf?

Der Erdkern ist schuld

Die Analysen ergaben: Zwei der bestimmenden Faktoren für die Erdrotation sind weitgehend stabil geblieben. Sowohl der bremsende Effekt der Mondanziehung und Gezeiten als auch das Zurückfedern der Erdkruste seit der letzten Eiszeit wirken weiterhin wie schon seit tausenden Jahren. Sie sorgen für eine schleichende Verlangsamung der Erddrehung. Doch ein dritter fundamentaler Faktor hat sich verändert, wie Agnew feststellte: der Einfluss des Erdkerns. „Seit 1972 hat der Drehimpuls des Erdkerns konstant abgenommen“, berichtet der Geophysiker.

Der flüssige Erdkern rotiert demnach zunehmend langsamer und auch die Superrotation des festen Innenkerns pausiert, wie Forscher bereits 2009 ermittelt haben. Die auf den ersten Blick paradoxe Folge davon: Wenn der Erdkern langsamer wird, beschleunigt sich die Rotation der festen äußeren Erdschichten. Die enge Kopplung der verschiedenen physikalischen Erdsysteme erfordert diesen Ausgleich der Drehimpulse, wie Agnew erklärt.

Für unsere Zeitmessung bedeutet dies: Solange dieser Trend anhält und der Erdkern „bummelt“, wird die Erdrotation schneller. Agnews Berechnungen zufolge könnte allein durch diesen Effekt schon im Jahr 2026 eine negative Schaltsekunde fällig werden. Denn im Extremfall könnten Weltzeit und Erdrotation bis dahin um eine Sekunde auseinander gedriftet sein.

Eisschmelze wirkt der Beschleunigung entgegen

Allerdings gibt es einen Gegenspieler für diesen Trend: den Klimawandel. Weil durch diesen immer mehr Eis in den Polargebieten schmilzt, kommt es zu einer globalen Verlagerung der Massenschwerpunkte. Die zuvor an den Polen konzentrierten Eismassen verteilen sich als Schmelzwasser gleichmäßig in den Ozeanen. Wie Agnes Berechnungen zeigen, wirken die steigenden Meeresspiegel und die damit verknüpften Massenverlagerungen wie eine Bremse für die Erdrotation.

Zwar reicht die bremsende Wirkung der Eisschmelze nicht aus, um die erdkernbedingte Beschleunigung der Erdrotation komplett auszugleichen. Sie könnte aber immerhin den Zeitpunkt weiter hinaus zögern, an dem eine negative Schaltsekunde nötig wird. Agnews Prognosen zufolge verschiebt sich dieser Fall um rund drei Jahre. Die negative Schaltsekunde wäre demnach frühestens 2029 fällig.

„Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie tiefgreifend wir Menschen unsere Welt beeinflussen“, sagt Agnew. Sogar die Erdrotation verändere sich durch die anthropogene Veränderung des Klimas.

Regeländerung für die Weltzeit?

Doch was bedeutet dies für unsere Weltzeit? Im Jahr 2022 hat die Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) bereits beschlossen, das System der Schaltsekunden zu ändern. Demnach sollen in Zukunft auch größere Abweichungen zwischen Weltzeit und Erdrotation geduldet werden als bisher. Ab 2035, so der Vorschlag, sollen daher für rund 100 Jahre erst einmal gar keine Schaltsekunden mehr eingelegt werden – egal ob positiv oder negativ.

Agnew befürwortet dies: „Die hohe Wahrscheinlichkeit für eine negative Schaltsekunde noch in diesem Jahrzehnt spricht für eine möglichst baldige Änderungen der UTC-Regeln“, so der Forscher. Er plädiert für ein generelles Verbot negativer Schaltsekunden. Ob dies passiert und wie hoch die maximal geduldete Abweichung von Weltzeit und Erdrotation werden darf, soll 2026 bei der nächsten Generalkonferenz beschlossen werden. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-024-07170-0)

Quelle: Nature, Scripps Institution of Oceanography at the University of California San Diego

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