Riffbildende Korallen sind im Mittelmeer viel weiter verbreitet als bisher angenommen. Dies ist das Ergebnis einer dreiwöchigen Expedition mit dem Forschungsschiff Meteor im Rahmen des EU-Forschungsprojekts Hermes (Hotspot Ecosystem Research on the Margins of European Seas). Denn neben zahlreichen fossilen Riffen fanden die Forscher im Adriatischen Meer auch Vorkommen lebender Korallen. Besonders häufig siedeln sie offensichtlich nahe einer Strömung aus sauer- und nährstoffreichem Tiefenwasser.
Tiefseeriffe galten seit dem Ende der letzten Eiszeit im Mittelmeer als nahezu ausgestorben. Zuvor fanden die Korallen höchstwahrscheinlich kühleres und nährstoffreicheres Wasser vor, also Lebensbedingungen, wie sie im heutigen Nordatlantik vorherrschen. Vor Beginn der Meteor-Expedition waren nur zwei Lebendvorkommen der ansonsten weltweit verbreiteten Steinkoralle Lophelia pertusa bekannt. Bereits auf den ersten Stationen vor Malta und in der Straße von Sizilien gelang es jedoch den Forschern unter der Leitung von Professor André Freiwald vom Institut für Paläontologie der Universität Erlangen-Nürnberg, diese Zahl auf fünf zu erhöhen. Der schwer zugängliche, geschützte Lebensraum, den Lophelia-Korallen im Mittelmeer offenbar bevorzugen, macht es verständlich, dass sie so lange verborgen geblieben sind. Die zerklüftete Unterwasserwelt mit engen Schluchten, Steilwänden, Kaminen und Überhängen wäre ohne den Tauchroboter Quest nicht zu erkunden gewesen.
„Hängende Gärten von Linosa“
Besonders spektakuläre Bilder sandte der Roboter in der Nähe der Insel Linosa zur Oberfläche. Im Bereich von 500 bis 1.000 Meter unter Wasser bot sich der fantastische Anblick von versteinerten Tiefwasserkorallen und Teilen von konservierten Begleitorganismen wie Tiefsee-Austern, die sich vor Tausenden von Jahren „kopfüber“ an Gesteinsdecken in Spalten und Höhlen festgesetzt hatten und später zu meterbreiten Galerien angewachsen waren. An den Unterseiten dieser Formation, die auf den Namen „Hängende Gärten von Linosa“ getauft wurde, waren zudem lebende Exemplare der Weißen Lophelia nachzuweisen.
Ähnlichen Strukturen begegneten die Forscher danach mehrfach, zuletzt an vertikal abfallenden Wänden in einem Unterwasser-Canyon bei Bari in der Adria. Hier waren es jedoch lebende Korallenökosysteme, die von einer Strömung aus sauer- und nährstoffreichem Tiefenwasser profitieren. Die höchste Artenvielfalt und Biomasse, die auf der Reise angetroffen wurde, fand sich in diesen Kolonien. Die adriatische Tiefenwasserquelle nutzt vermutlich auch dem ausgedehnten Riffgebiet vor Apulien im Ionischen Meer, das bereits seit sechs Jahren bekannt ist. Die apulischen Korallen wachsen an den strömungsexponierten Flanken von Hängen, wo sich mit der Zeit Riffschutthaufen ansammeln.
Vulkane und schwarze Raucher
Anders sieht es auf dem Meeresboden im östlichen Tyrrhenischen Meer aus, wo unterseeische Vulkane den Lebensraum bestimmen. Hier gab es vor allem interessante hydrothermale Strukturen und fossile schwarze Raucher zu erforschen. Lophelia-Vorkommen sind dort nur abgestorben und in harte Untergründe eingebacken vorzufinden. Stattdessen treten Schwämme und die große gelbe Baumkoralle auf, die meist einzeln siedelt und nur selten Kolonien bildet.
Erschreckend deutlich traten beim näheren Augenschein die Eingriffe des Menschen zu Tage. Riffe wurden durch den Einsatz von Schleppnetzen und Langleinen „umgemäht“, Plastikmüll hat sich in den verästelten Zweigen von Korallen verfangen, und verlorenes Fischereigerät sammelt sich auf den vulkanischen Erhebungen. Der Meeresgrund, obwohl noch weitgehend unbekanntes Gelände, zeigt bereits unverkennbare Zivilisationsschäden.
Die Ausfahrt der Meteor ist Teil des EU-Forschungsprojekts Hermes (Hotspot Ecosystem Research on the Margins of European Seas), an dem 45 Partner aus 15 europäischen Ländern beteiligt sind. Auf der Mittelmeer-Expedition waren Wissenschaftler und Techniker der Universitäten Bremen und Göttingen, des IFM-Geomar in Kiel, des Senckenberg Instituts sowie Projektpartner aus Aberdeen, Brest, Bologna, Mailand und Triest mit an Bord.
(Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 24.10.2006 – AHE)