Gefahr unterschätzt: Der steigende Meeresspiegel könnte dreimal mehr Menschen weltweit bedrohen als bislang angenommen, wie korrigierte Höhenmodelle enthüllen. Demnach leben schon jetzt 250 Millionen Küstenbewohner weniger als einen Meter über der Hochwasserlinie. Doch selbst beim Einhalten des Zwei-Grad-Klimaziels könnte die Zahl der Flutgefährdeten bis 2100 auf 360 Millionen steigen, so die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“. In einigen Ländern wäre sogar knapp ein Viertel der Bevölkerung betroffen.
Der Klimawandel treibt den Meeresspiegel immer schneller in die Höhe. Sowohl die thermische Ausdehnung des Wassers als auch der Zustrom von Schmelzwasser ließen die Pegel allein im 20. Jahrhundert um rund 15 Zentimeter ansteigen und jedes Jahr kommen gut drei Millimeter hinzu. Schon jetzt erleben flache Küstengebiete immer häufiger Überflutungen, viele Südsee-Inseln könnten dadurch schon in 15 Jahren unbewohnbar sein. Aber auch Teile der US-Ostküste mitsamt ihrer Kulturerbe-Stätten sind akut bedroht.
Systematischer Fehler im Höhenmodell
Es könnte aber noch schlimmer kommen als gedacht. Denn wie nun Scott Kulp und Benjamin Strauss von Climate Central in Princeton festgestellt haben, basierten bisherige Prognosen auf ungenauen, teils stark verfälschten Geländemodellen der Küstengebiete. „Trotz all der Forschung zum Klimawandel und dem Meeresspiegelanstieg zeigt sich nun, dass wir für den Großteil der globalen Küsten nicht einmal genau wussten, wie hoch der Boden unter unseren Füßen liegt“, sagt Strauss.
Der Grund dafür: Die meisten Geländemodelle beruhen auf Radardaten der Shuttle Radar Topography Mission (SRTM) der NASA. Doch diese erfassen beim Abtasten die jeweils höchsten Erhebungen wie Hausdächer oder die Kronenspitzen von Wäldern, statt des tatsächlichen Untergrunds. Dadurch kommt es zu großen positiven Abweichungen, die bisher nur in Teilen herausgerechnet wurden. Gerade dicht besiedelte Gebiete erscheinen dadurch höhergelegen als sie wirklich sind, wie die Forscher erklären.
Dreimal mehr Menschen schon heute gefährdet
Um diese Verzerrung zu beheben, haben Kulp und Strauss ein neues, mithilfe von lernfähigen Algorithmen korrigiertes Geländemodell entwickelt. Sie kalibrierten dafür die SRTM-Radardaten mithilfe von Vergleichsmessungen per LIDAR – lasergestützte Messungen, die durch Wälder und viele andere Hindernisse quasi hindurchblicken können. „Unser Geländemodell CoastalDEM verringert dadurch den vertikalen Fehler von 4,71 Meter auf weniger als 0,06 Meter“, berichten die Forscher.
Dieses korrigierte Geländemodell nutzten sie zunächst, um zu ermitteln, wie viele Küstenbewohner schon heute in gefährdeten Gebieten leben: „Unserem CoastalDEM zufolge leben 110 Millionen Menschen weltweit auf Land unterhalb der heutigen Hochwasserlinie und 250 Millionen Menschen unter dem Niveau jährlicher Überflutungen“, berichten Kulp und Strauss. Nach dem alten Modell waren nur 28 und 65 Millionen Menschen betroffen – rund dreimal weniger.
Neue Prognosen für die Küsten
Was aber bedeutet dies für die Zukunft in Zeiten des Klimawandels? Um das herauszufinden, kombinierten die Forscher ihr Geländemodell mit Meeresspiegelprognosen für eine gemäßigte Erwärmung um nur rund zwei Grad (RCP 4,5) oder aber einen weitgehend ungebremsten Klimawandel (RCP 8.5) bis zum Jahr 2100. Das Resultat sind neue Prognosen für Küsten in 135 Ländern.
Dabei gingen Kulp und Strauss von der heutigen Bevölkerungsdichte aus, weil deren künftige Entwicklung mit hohen Unsicherheiten behaftet ist, wie sie erklären. Ihre Ergebnisse sind daher angesichts des zu erwartenden Bevölkerungswachstums eher zu niedrig als zu hoch. Nicht berücksichtigt sind – aus dem gleichen Grund – auch Migrationsbewegungen und verstärkte Küstenschutzmaßnahmen, wie die Forscher betonen.
Erhöhte Gefahr selbst bei optimalem Klimaschutz
Die Simulationen ergaben: Selbst bei wirksamem Klimaschutz könnten die Meeresspiegel schon im Jahr 2050 hoch genug steigen, um 40 Millionen Menschen zusätzlich unter die Hochwasserlinie zu bringen. Bis 2100 könnte diese Zahl auf 110 Millionen Menschen zusätzlich anwachsen, wie Kulp und Strauss berichten. Rechnet man noch jährliche Sturmfluten hinzu, wären selbst bei einer Erwärmung um nur zwei Grad weltweit 360 Millionen Menschen von Überschwemmungen bedroht.
Besonders betroffen sind dabei die flachen Küsten asiatischer Länder wie China, Bangladesch, Vietnam und Thailand. Allein in Bangladesch könnten schon beim bestmöglichen Klimaschutz (RCP 2.6) 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung von häufigen Überschwemmungen betroffen sein – neun bis 19 Prozent mehr als heute. Auch in 20 weiteren Länder könnten bis 2100 selbst unter diesem Szenario zehn und mehr Prozent der Bevölkerung unter die Hochwasserlinie fallen – doppelt so viel wie auf Basis von SRTM angenommen.
„Land unter“ für 630 Millionen Menschen
Noch dramatischer wären die Folgen bei einer nahezu ungebremsten Erwärmung: „In diesem Fall würden schon im Jahr 2050 bis zu 340 Millionen Menschen weltweit von jährlichen Überflutungen bedroht sein“ berichten Kulp und Strauss. Bis zum Jahr 2100 würde diese Zahl auf bis zu 630 Millionen Menschen wachsen. Allein in Bangladesch und Vietnam könnte dann ein Drittel der Bevölkerung unter der Hochwasserlinie leben.
„Diese Schätzungen zeigen, dass der Klimawandel das Potenzial besitzt, Städte, Wirtschaften, Küstenlinien und ganze Regionen noch innerhalb unserer Lebenszeit völlig umzuformen“, sagt Kulp. „Wenn die Hochwasserlinie in den Lebensraum der Menschen steigt, werden sich die Regierungen immer häufiger fragen müssen, wie lange und wie gut Küstenschutzmaßnahmen sie noch schützen können.“
Schwere Zeiten für Küstenbewohner
Tatsächlich gehen Prognosen davon aus, dass die flutbedingten Kosten bei einer Erwärmung von mehr als zwei Grad bis 2100 auf mehr als 14 Billionen US-Dollar jährlich steigen könnten – das entspräche dann rund drei Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes. Gleichzeitig scheint klar, dass gerade ärmere Länder schon jetzt nicht genügend Mittel haben, um viel in aufwendigen Küstenschutz zu investieren.
Einige Wissenschaftler sehen schon jetzt nur noch eine Möglichkeit für viele betroffene Küstengebiete: den geordneten Rückzug. Nur wenn man schon jetzt damit beginnt, Städte, Siedlungen und Industriegebiete aus gefährdeten Gebieten weiter ins Inland zu verlagern, lassen sich ihrer Ansicht nach größere Schäden und soziale Ungerechtigkeiten vermeiden.
Auch Kulp und Strauss sehen schwere Zeiten auf die Küstenbewohner zukommen: „Wenn sich unsere Ergebnisse bestätigen, dann müssen sich Küstengemeinden weltweit auf eine sehr viel schwierigere Zukunft vorbereiten als lange angenommen“, so die Forscher. (Nature Communications, 2019; doi: 10.1038/s41467-019-12808-z)
Die Forscher haben auf Basis ihres neuen Geländemodells und den Prognosen eine interaktive Karte erstellt. Sie ist frei im Netz zugänglich.
Quelle: Climate Central, Nature Communications