Sie können groß oder klein sein, lang oder kurz – aber sie hängen immer von oben von der Decke von einer Höhle herab: Stalaktiten. Jetzt haben sich Mathematiker dieser besonderen Tropfsteine angenommen und eine Theorie entwickelt, die die einzigartige Form der Säulen erklärt.
Zur großen Überraschung der Wissenschaftler liegt den scheinbar so unterschiedlichen Stalaktiten tatsächlich eine einzige, gemeinsame Form zugrunde. Eine Tatsache, die bisher von Forschern schlicht übersehen wurde. „Wir hatten keine Ahnung, dass wir diese grundlegende Form finden würden. Es gibt nur eine Form, nach der alle Stalaktiten streben. Der Unterschied liegt nur in der Größenordnung – sie ist entweder groß oder klein, aber dennoch in der gleichen Form“, erklärt Martin Short von der Universität von Arizona in Tucson.
“Es ist eine ideale Form der Natur und in der Mathematik, die vorher nicht bekannt war”, ergänzt Raymond Goldstein, Professor an der Universität von Arizona und Mitautor der Studie. „Der griechische Philosoph Plato glaubte, dass es hinter dem, was wir in der Natur sehen, ideale Formen gibt. Obwohl jede einzelne Stalaktite Beulen und Rippen aufweisen kann, die sie verformen, könnte man sagen, dass im Inneren all dieser Tropfsteine eine ideale Form versucht, hervorzutreten.“
Stalaktiten entstehen, wenn Kohlendioxid- und Kalziumkarbonathaltiges Wasser aus Rissen und Löchern in der Decke einer Höhle austritt. Während der Wassertropfen noch an der Decke hängt, entweicht das Kohlendioxid. Als Folge fällt das Kalziumkarbonat aus der Lösung aus und bleibt als winziges festes Teilchen zurück, wenn der Wassertropfen fällt. Da jeder weitere Wassertropfen ebenfalls Karbonat hinterlässt, bildet sich im Laufe der Zeit ein nach unten wachsender Zapfen.
Weil die Form dieses Zapfens durch das Fließen des Wassers über seine Oberfläche bestimmt wird, suchte das Forscherteam im Bereich der Strömungsdynamik nach einer Gleichung, die das Wachsen am besten beschreibt. „Es ist eine allgemeine Gleichung für die Bewegung von Stalaktiten, ein geometrisches Gesetz der Bewegung“, erklärt Goldstein. Diese Grundgleichung nutzten die Wissenschaftler anschließend als Basis für eine Computersimulation des Stalaktitenwachstums. Und zur großen Überraschung aller, entwickelten sich sowohl die resultierenden Gleichungen als auch die abgebildeten Stalaktiten unabhängig von ihrer Ausgangsform alle in der gleichen Weise. Heraus kamen immer „klassische“ Tropfsteine.
“Der Computer sagte uns, dass es etwas Einzigartiges zu sehen gab, diese ideale Form”, so Goldstein. Auf dieser Erkenntnis basierend lösten die Forscher ihre Grundgleichung der Bewegung so auf, dass eine spezifische mathematische Beschreibung der zapfenartigen Form der Stalaktiten herauskam.
Doch der Test mit der Realität stand noch aus. Daher begaben sich die Wissenschaftler mit Kameras, Laptops und Laserlicht ausgerüstet in die Kartchner Caverns in Arizona, um vor Ort die Tropfsteine zu untersuchen. Dutzende von Aufnahmen nahmen sie mit zurück ins Labor und verglichen die Form der Stalaktiten mit den idealen, auf ihrer Formel beruhenden Modellen. Und tatsächlich unterschieden sich Wirklichkeit und ideal nur um weniger als fünf Prozent.
(University of Arizona, 08.12.2004 – NPO)