Seit Beginn der Industrialisierung steigt der Meeresspiegel schneller als je zuvor in den letzten 2.000 Jahren. Das belegt jetzt ein internationales Forscherteam in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS). Ihre erste durchgehende Rekonstruktion der Meeresspiegelschwankungen über einen so langen Zeitraum erhärtet die Annahme, dass der Meeresspiegel umso rascher steigt, je wärmer das globale Klima wird.
{1l}
Der Meeresspiegel der Weltmeere ist nicht gleichbleibend, sondern veränderte sich im Laufe der Erdgeschichte ständig. Eiszeiten senkten ihn um mehr als hundert Meter ab, globale Warmzeiten ließen ihn wieder ansteigen. Der Grund für diese Schwankungen: Zum einen reagiert Wasser auf die Temperatur: Wird es erwärmt, dehnt es sich aus, und der Meeresspiegel steigt. Die zweite wesentliche Ursache für einen Anstieg ist das Abschmelzen von Gebirgsgletschern und großer Eismassen in Grönland und der Antarktis, wodurch zusätzliches Wasser ins Meer gelangt.
Kalkschalen fossiler Einzeller als Wasserstandsmelder
Den Zusammenhang von Temperatur und Meeresspiegel hatten Studien bisher allerdings nur für die letzten 130 Jahre detailliert rekonstruiert, Daten aus der ferneren Vergangenheit erfassten nur punktuelle Zeitabschnitte. Jetzt jedoch hat ein deutsch-amerikanisches Forscherteam erstmals die Meeresspiegelschwankungen der letzten 2.000 Jahre lückenlos rekonstruiert. Die Forscher untersuchten dafür in Bohrkernen aus Salzwiesen an der nordamerikanischen Küste fossile Kalkschalen von Einzellern. Diese Foraminiferen gelten als natürliches Archiv der Pegelstände des Ozeans. Menge und Art ihrer Kalkschalen zeigen den Wasserstand vergangener Jahrhunderte an, weil die Arten jeweils in einer ganz bestimmten Höhe im Gezeitenbereich leben.
Die in North Carolina gewonnenen Daten decken sich mit Hafenpegeldaten, soweit diese zurückreichen, und sie wurden außerdem durch eine unabhängige Rekonstruktion aus Massachusetts bestätigt. Obwohl Meeresspiegelschwankungen örtlich in gewissem Rahmen vom Verlauf des globalen Meeresspiegels abweichen können, gehen die Wissenschaftler daher davon aus, dass ihre Daten im Großen und Ganzen die Veränderungen im globalen Meeresspiegel aufzeigen.
Rekordanstieg seit Industrialisierung
Die Daten zeigen vier Phasen: Von 200 vor Christus bis 1.000 nach Christus war der Meeresspiegel stabil. Ab dem 11. Jahrhundert stieg er 400 Jahre lang um etwa fünf Zentimeter pro Jahrhundert an. Diesen Anstieg konnten die Forscher in Modellrechnungen mit der mittelalterlichen Warmperiode erklären. Gefolgt war der Anstieg von einer weiteren stabilen Periode mit kühlerem Klima, die bis ins späte 19. Jahrhundert reicht. Seither ist der Meeresspiegel im Zuge der globalen Erwärmung um rund 20 Zentimeter angestiegen. Damit ist dieser jüngste Anstieg von durchschnittlich 2,1 Millimeter pro Jahr um ein Mehrfaches schneller als alles, was es in den vorangegangenen 2.000 Jahren gegeben hat.
Temperatur ausschlaggebender Faktor
„Der Anstieg des Meeresspiegels ist eine potenziell desaströse Folge des Klimawandels, weil steigende Temperaturen das Eis an Land schmelzen lassen und das Wasser der Ozeane erwärmen“, erklärt Benjamin Horton von der Universität von Pennsylvania. „Die neue Untersuchung bestätigt unser Modell des Meeresspiegelanstiegs – die Daten der Vergangenheit schärfen damit unseren Blick in die Zukunft“, ergänzt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, einer der Autoren.
Das zeitliche Zusammentreffen der Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs mit dem Beginn der Industrialisierung sei, so Rahmstorf, ein deutlicher Hinweis: „Der Mensch heizt mit seinen Treibhausgasen das Klima immer weiter auf, daher schmilzt das Landeis immer rascher und der Meeresspiegel steigt immer schneller.“
Zu den Autoren der Studie zählen neben Rahmstorf und Horton auch Andrew Kemp (Yale University), Jeffrey Donnelly (Woods Hole Oceanographic Institution), Michael Mann (Pennsylvania State University), Martin Vermeer (Aalto University School of Engineering, Finland). Die Untersuchung wurde unterstützt unter anderem von der US-amerikanischen National Science Foundation. (PNAS, 2011; DOI: 10.1073/pnas.1015619108)
(Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, 21.06.2011 – NPO)