Das Team kartierte die Ablagerungen im Sabche-Kar, entnahm Proben und ermittelte anhand von Isotopenanalysen und Pflanzenresten das Alter der aufgetürmten Geröll- und Gesteinsmehlschichten.
Gewaltiger Felssturz im Jahr 1190
Das überraschende Ergebnis: Anders als bisher angenommen haben sich die dicken Gesteinsschichten des Sabche-Kars nicht im Laufe längerer Zeit angesammelt – sie stammen von einem einzigen Ereignis. „Die Merkmal der Ablagerungen, die starke Fragmentierung der Felsbrocken, die außergewöhnliche Dicke von mehr als 400 Metern und die im Annapurna-Massiv einzigartige Beschaffenheit dieser Brecchia sprechen klar dafür, dass diese Ablagerungen durch eine einzige Gerölllawine entstanden sind“, berichten Lavé und sein Team.
Dieser gewaltige Felssturz ereignete sich den Datierungen zufolge um das Jahr 1190. Auf einen Schlag lösten sich damals 23 Kubikkilometer Gestein vom Berghang in der Gipfelregion des Annapurna IV und stürzten zu Tal. „Dies ist der größte Felssturz, der bisher aus dem gesamten Himalayagebiet bekannt ist“, berichten die Forschenden. Ihren Berechnungen zufolge setzte der kilometertiefe Fall dieser Gesteinsmassen die enorme Energie von rund 1,2 Trillionen Joule frei. Die anfangs riesigen Gesteinsblöcke wurden dadurch zermalmt und teilweise pulverisiert.
Durch Regen, Talgletscher und weitere Rutschungen erodierte das Geröll dieses Felssturzes schnell weiter und wurde von den Quellflüssen des Seti-Flusses bis in das Pokhara-Tal getragen. „Von den anfänglichen 23 Kubikkilometern an Felssturztrümmern sind deshalb heute nur noch rund zehn Prozent im Sabche-Kar erhalten“, erklärt das Team.
Annapurna-Gipfel verliert 600 Höhenmeter
Für den Annapurna IV hatte dieser mittelalterliche Felssturz bleibende Folgen: „Die gigantische Felsrutschung muss den ursprünglichen Gipfel des Annapurna IV förmlich geköpft haben“, berichten Lavé und seine Kollegen. Noch heute zeugen die steile, glatte Südwestflanke des Berges und eine erkennbare Abbruchkante von der Ursprungsregion des Gerölls. Mithilfe geophysikalischer Modelle haben die Forschenden rekonstruiert, welche Form und Höhe der Berggipfel und der angrenzende Grat vor dem Kollaps hatten.
Das Ergebnis: „Wir schätzen, dass der Paläo-Annapurna IV eine mittlere Höhe von rund 8.100 Meter gehabt haben muss – gut 600 Meter mehr als heute“, so das Team. Damit könnte der Annapurna IV – heute ein bloßer Nebengipfel mit 7.525 Metern – einst sogar höher gewesen sein als der heute höchste Berg im Annapurna-Massiv.
Was war die Ursache?
Doch was war der Auslöser dieses Gipfel-Kollapses? Auch das haben Lavé und seine Kollegen mithilfe geophysikalischer Modelle näher untersucht. „Eine Kombination mehrerer Faktoren macht die oberen Regionen des Himalaya anfällig für ein großräumiges Hangversagen“, berichten sie. Der erste Schritt ist demnach die Gletschererosion in den unteren Teilen der Berggipfel, durch die die Hänge steiler werden. Dies wird in steileren, schneefreien Zonen durch die Frostsprengung der Felsen verstärkt, die immer wieder Feldblöcke abbröckeln lässt – soweit sind dies die ganz normalen Erosionsprozesse in Gebirgen.
Nun kommen jedoch die tektonische Hebung und das Klima ins Spiel: „Die Hebung bringt den Gipfel in die Permafrost-Zone, in der die Felsmassen permanent durch Eis miteinander verbunden sind. Die Erosion sinkt dadurch bis auf ein Minimum ab“, erklären die Forschenden. Doch mit steigender Höhe nimmt die Masse des Gipfels zu – bis irgendwann der „Kleber“ aus Eis versagt: Der steile, schmale Gipfel wird instabil und kollabiert, ein großer Teil des Gipfels rast als Felssturz zu Tal.
Kappungs-Mechanismus auch für andere Hochgebirgs-Gipfel
Nach Ansicht von Lavé und seinem Team war der mittelalterliche Kollaps des Annapurna IV aber kein Einzelfall: Auch viele andere Berggipfel im Himalaya und in anderen wachsenden Hochgebirgen könnte durch solche Mega-Felsstürze immer wieder gekappt worden sein. „Solche massiven Gipfel-Kollapse verringerten ihre Höhe immer wieder abrupt um mehrere hundert Meter“, erklären die Forschenden. „Diese Ereignisse könnten sogar den primären Abtragungsmechanismus für die hohen Himalayagipfel darstellen.“
Dies könnte erklären, warum die höchsten Berge unseres Planeten nicht unbegrenzt in den Himmel wachsen, obwohl ihre Gipfel über viele gängige Erosionsmechanismen buchstäblich hinausgewachsen sind. Jüngste Studien deuteten bereits darauf hin, dass die allmähliche Abtragung allein nicht erklären kann, warum der Himalaya nicht noch viel höher aufragt. Der Felssturz am Annapurna hat nun einen Mechanismus enthüllt, der für die Höhenbegrenzung sorgen könnte.
„Unsere Beobachtungen sprechend dafür, dass solche Felsstürze letztlich der Kontrollmechanismus sind, der das anhaltende Wachstum der hohen Himalaya-Gipfel begrenzt“, konstatieren Lavé und seine Kollegen. Weil es wegen der starken „Klebkraft“ des Permafrosts in diesen extremen Höhen lange dauert, bis ein solcher Gipfel kollabiert, ereignen sich solche Felsstürze nur selten – sind dafür aber umso voluminöser. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-06040-5)
Quelle: Nature
6. Juli 2023
- Nadja Podbregar