Unser direkter Vorfahr Homo erectus hatte offenbar mehr Gesellschaft in seiner Heimat Afrika, als bisher bekannt war: Neue Fossilienfunde legen nahe, dass vor knapp zwei Millionen Jahren nicht nur – wie bislang angenommen – ein weiterer Vertreter der Gattung Homo im Gebiet des heutigen Kenia zu Hause war, sondern sogar zwei. Sollten tatsächlich drei Frühmenschen im gleichen Region gelebt haben, besetzten sie wahrscheinlich unterschiedliche ökologische Nischen und ernährten sich auch unterschiedlich. Möglicherweise mieden sie sich sogar gezielt, um sich nicht gegenseitig ins Gehege zu kommen, berichtet das Team um die bekannte Paläoanthropologin Maeve Leakey in der Fachzeitschrift „Nature“.
Komplizierter Stammbaum
Die Evolution der Gattung Homo ist zwar nach dem Auftauchen von Homo erectus vor knapp 1,9 Millionen Jahren, der als unser direkter Vorfahr gilt, ziemlich gut erforscht. Die frühe Phase dagegen liegt trotz einer Vielzahl an Funden noch immer weitestgehend im Dunklen. Relativ unumstritten ist, dass zumindest noch ein anderer Frühmensch zur Zeit von Homo erectus in Afrika lebte: Er hatte einen ziemlich kleinen Schädel und einen runden, vorstehenden Kiefer. Allerdings weisen nicht alle Funde aus dieser Zeit diese Merkmale oder die von H. erectus auf. Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem ein knapp zwei Millionen Jahre alter Gesichtsschädel mit der Bezeichnung KNM-ER 1470, den Leakeys Ehemann Richard 1972 entdeckt hatte. Er wurde zweifelsfrei der Gattung Homo zugeordnet, unterschied sich jedoch deutlich von H. erectus. Er passte aber auch nicht zu den anderen Homo-Fundstücken aus der gleichen Zeit: Er war größer und das Gesicht länger und flacher.
Trotz der augenfälligen Unterschiede blieb unklar, ob es sich bei KNM-ER 1470 um ein sogenanntes Typusexemplar einer dritten Art – neben H. erectus und der älteren Art mit ihren kleineren Schädeln – handelte oder lediglich um eine ungewöhnliche Variation einer der bereits bekannten Frühmenschen. Die neuen Fundstücke werfen nun ein neues Licht auf diese Frage: Es handelt sich um einen Teil eines Gesichtsschädels inklusive einiger Zähne im Oberkiefer, einen praktisch vollständig erhaltenen Unterkiefer und ein weiteres Unterkieferfragment. Sie sind zwischen 1,78 und 1,95 Millionen Jahre alt und damit etwas jünger als 1470. Gefunden wurden sie ebenfalls am Turkana-See in Kenia, in einem Umkreis von nicht einmal zehn Kilometern von 1470s Fundstelle.
Frappierende Ähnlichkeiten
Das Bemerkenswerte an ihnen ist die große Ähnlichkeit mit 1470: Der Gesichtsschädel ist zwar kleiner, stammt also vermutlich von einem jugendlichen Individuum, weist aber den gleichen flachen, geraden Gesichtsschnitt auf. Die beiden Unterkiefer passen exakt dazu, wie die Wissenschaftler dank Digitalisierung feststellen konnten: Sie sind ziemlich kurz und weisen eine kantige U-Form auf, bei der die ungewöhnlich kleinen Schneidezähne in einer Reihe mit den ebenfalls wenig hervortretenden Eckzähnen stehen. Die drei neuen Funde können also eindeutig der 1470-Gruppe zugeordnet werden, sagen die Forscher. Damit handelte es sich bei KNM-ER 1470 offenbar nicht um eine Missbildung, sondern wohl tatsächlich um eine eigene Art. Folglich müssen zur Zeit des ersten Auftauchens von Homo erectus zwei weitere Homo-Vertreter in Ostafrika gelebt – die 1470er Gruppe und die bereits bekannte Gruppe mit den kleineren, runderen Schädeln.
Während Leakey und ihre Kollegen darauf verzichten, die beiden Gruppen klar zu benennen, hält der auf Früh- und Vormenschenanatomie spezialisierte Brite Bernard Wood KNM-ER 1470 für einen Vertreter der ältesten Homo-Art Homo rudolfensis, der vermutlich der direkte Vorfahr von H. erectus war. Wie er in einem Kommentar zur Studie schreibt, ordnet er die restlichen Funde mit ihren kleineren Schädeln und runderen Zahnbögen Homo habilis zu, dessen Stellung im Homo-Stammbaum noch umstritten ist. Betrachte man die Vielfalt an Formen bei den Frühmenschenfunden, sei es sogar denkbar, dass es noch eine vierte Menschenart gab, die vor knapp zwei Millionen Jahren ebenfalls in Afrika lebte, spekuliert er. (doi: 10.1038/nature11322)
(Nature, 09.08.2012 – ILB)