Von Hieroglyphen zum Alphabet: Archäologen haben in Israel ein wichtiges Bindeglied der Schriftentwicklung gefunden – Buchstaben, die Vorformen des heutigen Alphabets darstellen. Die auf einer 3.450 Jahre alten Gefäßscherbe erkennbaren Schriftzeichen markieren den Übergang von der Bildsprache der Hieroglyphen zu den abstrakteren und vielseitiger einsetzbaren Buchstaben des Alphabets. Gleichzeitig erhärten sie die Annahme, dass die südliche Levante ein Kerngebiet der Alphabet-Entwicklung war.
Heute sind das Alphabet und die Schrift alltäglich, doch ihre Ursprünge bergen noch einige Rätsel. So hinterließen Menschen der Indus-Kultur schon vor knapp 5.000 Jahren rätselhafte Symbole – ob es aber schon eine echte Schrift war, ist unklar. Im Zweistromland entwickelten die Sumerer etwa um die gleiche Zeit ihre Keilschrift, die Ägypter schrieben Botschaften mit Hieroglyphen und die Minoer nutzten gleich zwei – noch weitgehend unentzifferte – Schriftsysteme parallel.
Wo entstand das Alphabet?
Doch diese frühen Schriften waren noch kein echtes Alphabet. Meist handelte es sich um bildliche oder symbolische Repräsentationen bestimmter Objekte oder Silbenlaute. Erste Schritte hin zu einem Notationssystem, das mit wenigen standardisierten Zeichen die gesamte Fülle der menschlichen Sprache abbildete, machten die Ägypter. Sie entwickelten vor rund 4.000 Jahren im Rahmen ihrer hieratischen Schrift einen verkürzten Satz von Zeichen, der aber noch unvollständig war.
Die Wiege unseres Alphabets jedoch liegt in der Levante – dem östlichen Nachbarn Ägyptens. Dort entwickelten Menschen früher semitischer Kulturen unter dem Einfluss Ägyptens und westasiatischer Schriften erstmals ein echtes Alphabet. Dieses bestand aus Zeichen, die noch heute in der hebräischen Schrift vorkommen und die als abstrakte Buchstaben dienten. Auf die ersten Buchstaben „Aleph“ und „Bet“ geht noch heute der Name „Alphabet“ zurück. Mit den Phöniziern breitete sich dieses dann über den gesamten Mittelmeerraum aus.
Buchstaben auf einer Scherbe
Jetzt haben Archäologen einen der ältesten Belege für solche frühen Alphabet-Schriftzeichen entdeckt – auf einer Gefäßscherbe aus der Zeit um 1450 vor Christus. Aufgespürt haben Felix Höflmayer vom Österreichischen Archäologischen Institut und sein Team das Relikt bei Ausgrabungen in Tel Lachisch im Süden Israels. Dieser Ort gilt schon länger als kultureller Hotspot der Bronzezeit und wird auch in Briefen des ägyptischen Pharao Thutmosis III. erwähnt.
Das 2018 in Tel Lachisch entdeckte Keramikfragment ist knapp vier Zentimeter groß und wurde zwischen den Resten einer Stadtmauer und eines größeren Gebäudes gefunden. Auf seiner Innenseite sind eine Handvoll mit dunkler Farbe geschriebene Buchstaben zu sehen. „Man erkennt zwei Reihen mit jeweils drei Buchstaben“, berichten die Forscher. Zwei weitere Zeichen stehen seitlich davon, ein drittes zwischen den beiden Zeilen.
Frühester Beleg fürs Alphabet
Das Spannende aber ist die Form der Buchstaben: Sie sind bereits klar als alphabetische Zeichen zu identifizieren. Die erste Zeile besteht aus den Buchstaben Ayin, Bet und Dalet. Rückwärts könnte sich daraus das Wort Sklave ergeben – ein häufiger Namenszusatz im frühen semitischen Sprachgebrauch, wie die Archäologen erklären. In der zweiten Zeile ergeben die Buchstaben Nun, Pe und Tav. Dies ergibt je nach Leserichtung das Wort für Honig/ Nektar oder aber eine Ableitung des Verbs „drehen“.
„Diese Keramikscherbe ist eines der frühesten sicher datierten Beispiele für alphabetische Schrift, die in Israel gefunden wurde“, berichtet Höflmayer. Damit schließt der Fund eine wichtige Lücke zwischen jüngeren Belegen und älteren Funden wie dem Lachisch-Dolch aus dem 18. Jahrhundert v. Chr., deren Alter und Beschriftung umstritten sind. Damit könnte die Scherbe ein Missing Link in der Geschichte der Entstehung und Verbreitung des Alphabets sein.
Neuer Blick auf die Ursprünge
„Allein ihr Vorhandensein bringt uns dazu, die Entstehung und Verbreitung des frühen Alphabets im Nahen Osten neu zu überdenken“, sagt Höflmayer. Denn bisher wurde die Verbreitung des frühen Alphabets in der südlichen Levante als Nebenprodukt der ägyptischen Vorherrschaft über dieses Gebiet im 14. oder 13. Jahrhundert v. Chr. angesehen. „Unser Zufallsfund zeigt, dass die Verbreitung des Alphabets deutlich früher anzusetzen ist“, so der Forscher.
Der aktuelle Fund belegt, dass das Alphabet schon 100 bis 200 Jahre vor der ägyptischen Besetzung der Levante existierte. Stattdessen könnte es auf die Zeit der Hyksos zurückgehen – einer Periode, in der Teile Ägyptens und der Levante von Königen eines semitischen Volks aus Kleinasien oder dem Osten der Levante beherrscht wurden. Damit müsse auch die Ausbreitung des Alphabets aus dem Kontext der ägyptischen Vorherrschaft gelöst werden, denn diese kam erst später, betont Höflmayer.
Das Team um Höflmayer hofft nun auf weitere Ausgrabungen und Funde in Tel Lachisch, um die noch bestehenden Wissenslücken zu schließen und mehr über diese wichtige Periode der Geschichte des frühen Alphabets zu erfahren. (Antiquity, 2021; doi: 10.15184/aqy.2020.157)
Quelle: Österreichische Akademie der Wissenschaften