Der Forschungseisbrecher „Polarstern“ des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung bricht morgen zu seiner 20. Arktis-Expedition auf. Im Mittelpunkt der Forschungsfahrt stehen Messungen ausgewählter Schadstoffe in Luft, Wasser und Schnee sowie die hydrografischen Verhältnisse der Grönlandsee. Wissenschaftler werden außerdem die Entwicklungen im „Hausgarten“, einer Langzeit-Forschungsstation in der arktischen Tiefsee, beobachten.
Die Tiefsee ist der größte, gleichzeitig aber am wenigsten bekannte Lebensraum der Erde. Bis heute sind viele Prozesse in der Tiefsee und deren Auswirkungen auf das globale Klima- und Ökosystem nicht ausreichend geklärt. Dies ist durch Momentaufnahmen, wie sie bis vor wenigen Jahren Standard waren, auch nicht zu leisten.
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Einmalige Probennahmen oder Messungen lassen eine Einschätzung zeitlicher Variabilitäten nicht zu. Erst Langzeituntersuchungen an ausgewählten Standorten eröffnen die Möglichkeit aufzuklären, welche Umweltbedingungen die Lebensgemeinschaften der Tiefsee in ihrer Entwicklung, Struktur und Komplexität beeinflussen. Es besteht dringender Bedarf an solchen Basisdaten, um die Auswirkungen menschlicher Eingriffe auf das Ökosystem der Tiefsee abschätzen zu können. Erst die Möglichkeit, zeitliche Variabilitäten über ausreichend lange Zeiträume erfassen zu können, erlaubt es, unterschiedliche Werte zwischen den Jahren bzw. Jahreszeiten von (natürlichen) Langzeittrends zu trennen.
Forschen im „Hausgarten“
Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung haben im Sommer 1999 in der Framstraße westlich von Spitzbergen (79°N, 4°E) die erste Langzeitstation in einer polaren Tiefseeregion eingerichtet. Neben einem zentralen Experimentierfeld in 2500 Metern Wassertiefe (dem AWI-Hausgarten) wurden insgesamt neun Stationen in 1000 – 5500 Metern Tiefe bestimmt, an denen in den nächsten Jahren wiederholt biologische, geochemische und sedimentologische Untersuchungen durchgeführt werden sollen.
Forschungsschwerpunkte während der aktuellen Expedition sind die Erfassung des Bestandes an Bodenlebewesen und des Sauerstoffverbrauches am Meeresboden, die Untersuchung des Partikelflusses in die Tiefsee und die Sedimentation am Kontinentalrand westlich von Spitzbergen. Hinzu kommen Untersuchungen zu bakteriellen Tiefseegemeinschaften, zu kleineren das Sediment bewohnenden Organismen sowie zu Tiefseefischen. Komplettiert wird das Forschungsprogramm durch Studien zum Einfluss von Methan auf benthische Foraminiferen, die als sehr sensible Anzeiger für Umweltbedingungen gelten.
Luftchemie im Blick
Bereits auf dem Weg zum AWI-Hausgarten nutzen Wissenschaftler des GKSS-Forschungszentrums die Forschungsplattform „Polarstern“ für eine Vielzahl luftchemischer Untersuchungen. Die Wissenschaftler wollen dabei vor allem die Verbreitung von Quecksilber und langlebigen (persistenten) organischen Schadstoffen analysieren. Die Fahrtroute der „Polarstern“ von Bremerhaven aus in die arktischen Gewässer bietet ihnen dabei eine seltene Gelegenheit Messreihen zu erheben, die räumlich sowohl die Quellengebiete als auch industrieferne arktische Regionen umfassen. Eine spezifisch polare Erscheinung ist der ‚Atmosphärische Quecksilberrückgang‘, während dessen die Konzentrationen in der Atmosphäre sehr kurzfristig deutlich unter die Hintergrundswerte sinken. Hier wollen die Wissenschaftler ermitteln, inwieweit die Polarregionen der Erde als endgültige Ablagerungsgebiete angesehen werden müssen.
Wasserwirbel im Dauertest
Zwischen Grönland und Spitzbergen wird „Polarstern“ anschließend entlang des 75. nördlichen Breitengrades hydrografische Daten erheben. Dieses Messprogramm wird seit einigen Jahren regelmäßig wiederholt, denn „erst lange Zeitreihen mit qualitativ guten Messwerten ermöglichen es, die komplexen Veränderungen in den arktischen Gewässern richtig zu erkennen und zu erklären“ so Fahrtleiter Dr. Gereon Budeus. Eine große Rolle spielt dabei vor allem die Tiefenkonvektion. In jüngster Zeit wurden kleinskalige Wirbel entdeckt, in denen die Konvektion etwa 1000 Meter tiefer als in der Umgebung reicht. Um die Bedeutung solcher Wirbel abschätzen zu können, werden die Wissenschaftler versuchen, über mehrere Jahre die Entwicklung eines relativ stationären Wirbels zu verfolgen.
Nach dem Ende der Arbeiten im „Hausgarten“ wird die „Polarstern“ voraussichtlich am 16. Juli in Longyearbyen, Spitzbergen einlaufen. Von dort aus führt der zweite Fahrtabschnitt das Schiff unter anderem in die Framstraße, zum Yermak Plateau, in das Mündungsgebiet der sibirischen Lena und in die Karasee. Dann stehen umfangreiche Forschungsarbeiten zu geologischen, ozeanographischen, biologischen und luftchemischen Fragestellungen auf dem Programm. Mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute wird „Polarstern“ von ihrer 20. Expedition am 3. Oktober in Bremerhaven zurück erwartet.
(AWI, 15.06.2004 – NPO)