Unglaublich fein: Forscher haben herausgefunden, woraus das ungewöhnlich dünne Pergament der ersten mittelalterlichen „Taschenbibeln“ bestand. Demnach mussten für die feinen Tierhaut-Seiten keine ungeborenen Kälber sterben, wie lange angenommen. Stattdessen wurden für die Bibeln die gleichen Tierhäute genutzt wie für andere Pergamente auch. Eine besondere Verarbeitung sorgte wahrscheinlich dafür, dass das Pergament trotzdem so dünn wurde.
Es war ein echter Durchbruch in der Buchkunst: Obwohl der Buchdruck noch nicht erfunden war, wurden im 13. Jahrhundert mehr als 20.000 „Taschenbibeln“ in Europa hergestellt und verkauft. Diese ersten in Massen produzierten Bibeln hatten nachhaltigen Einfluss und prägten die bis heute übliche Inhaltsabfolge und Form dieses religiösen Buches. „Ihre Bedeutung hängt direkt mit ihrem Format als handliches, einbändiges Buch zusammen“, erklären Sarah Fiddyment von der University of York und ihre Kollegen.
Wurden dafür ungeborene Tiere geopfert?
Und genau hier kommt das Pergament ins Spiel: Man konnte diese Bibeln nur deshalb so klein und kompakt machen, weil man dafür ein besonders dünnes, aber trotzdem stabiles Pergament nutzte. Dieses erscheint jedoch mit nur 0,03 bis 0,28 Millimetern Dicke eigentlich zu fein, um auf herkömmliche Weise aus den Häuten von jungen Kälbern, Schafen oder Ziegen hergestellt worden zu sein.
Weil in einigen lateinischen Quellen der Begriff „abortivum“ im Zusammenhang mit diesem Bibelpergament genutzt wird, vermuten einige Historiker, dass man damals die besonders dünne Haut von ungeborenen Kälbern für diese Bücher nutzte. Andere Forscher argumentierten, dass dies die Herden viel zu stark dezimiert hätte. Sie halten es für wahrscheinlicher, dass dieses ultrafeine Pergament aus den Häuten kleinerer Tiere wie Kaninchen gefertigt wurde.
Radiergummi als Probenlieferant
Das Problem dabei: Man kann den Ursprung von Pergamenten zwar per DNA-Analyse bestimmen, doch bisher musste dafür immer ein Teil des wertvollen Pergaments für Proben zerstört werden. Fiddyment und ihre Kollegen haben dafür nun eine genial einfache Lösung gefunden: Sie gewinnen Analysenmaterial in Form von tierischen Proteinen aus den winzigen Pergament-Krümeln, die beim Reinigen der Manuskripte mit speziellen Radiergummis ohnehin anfallen.
„Diese PVC-Radiergummis sind in allen Archiven verbreitet“, erklären die Forscher. „Zudem hält sich das Protein in den PVC-Krümeln selbst bei Raumtemperatur nahezu unbegrenzt.“ Mit Hilfe solcher Krümel analysierten sie für ihre Studie die Pergamentzusammensetzung von 72 mittelalterlichen Taschenbibeln und 293 weiteren Manuskripten aus dieser Zeit.
Weder Kaninchen noch Ungeborene
Das Ergebnis: Kaninchen und andere Kleintiere wurden offenbar nicht zur Herstellung dieser ultrafeinen Pergamente genutzt. Stattdessen bestanden zwei Drittel aus Kalbshäuten, rund ein Viertel aus Ziegen und sechs Prozent aus Schafshäuten. „Die Taschenbibeln – eines der ersten Beispiele für die kommerzielle Buchproduktion – wurden damit auf Häuten aller drei Tierarten geschrieben, die auch für andere Pergamente üblich waren“, berichten die Forscher.
Dies spricht auch eher dagegen, dass für die Bibeln Tierföten sterben mussten. „Unsere Analysen sprechen dafür, dass das ultrafeine Pergament wahrscheinlich nicht aus den Häuten ungeborener Tiere gemacht wurde“, sagt Fiddyment. Stattdessen sorgte wahrscheinlich eine spezielle Verarbeitung der Häute dafür, dass sie zu so dünnem Pergament wurden.
Dass dies durchaus möglich ist, hat Jiří Vnouček von der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen im Rahmen der Studie selbst ausprobiert. Er versuchte, aus den Häuten von Kälbern und Ziegen ein ähnlich dünnes Pergament herzustellen wie es damals in den Taschenbibeln verwendet wurde – und war erfolgreich. Sein Fazit: „Es eher eine Frage der richtigen Herstellungstechnik.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015; doi: 10.1073/pnas.1512264112)
(University of York, 24.11.2015 – NPO)