Sturm statt Tsunami? Das Mittelmeer könnte weniger Tsunamis erlebt haben als bisher angenommen. Denn bis zu 90 Prozent der vermeintlichen Tsunami-Ablagerungen aus den letzten 4.500 Jahren stammen wahrscheinlich von Sturmfluten, wie Forscher im Fachmagazin „Science Advances“ berichten. Ein Indiz dafür: Die gestörten Sedimentschichten entlang der Mittelmeerküsten häufen sich genau in den Zeiten, in denen das Klima besonders kühl und stürmisch war.
Ob die Paläste der Minoer oder das antike Olympia: Rund ums Mittelmeer gibt es mehrere Kulturen und Stätten, die durch die Folgen eines Tsunamis zerstört worden sein sollen. Kein Wunder, liegt doch diese Region direkt über der Kollisionszone von Afrikanischer und Eurasischer Erdplatte. Vulkanausbrüche und Erdbeben sind daher häufig.
Gestörte Schichten
In vielen Küstengebieten des Mittelmeeres haben Geologen bereits Spuren früherer Tsunamis gefunden. Sie sind meist daran erkennbar, dass Felsen und Geröll in den betreffenden Gesteinsschichten durcheinandergewirbelt erscheinen. Selbst größere Gesteinsblöcke sind in diesen Schichten manchmal umgekippt. Auch Meeressand und Geröll weit im Inland kann ein Hinweis auf frühere Überflutungen sein.
„Stürme und Tsunamis hinterlassen sogenannte Ereignis-Ablagerungen, dies sind innerhalb kurzer Zeit durch ungewöhnlich energiereiche Prozesse abgelagerte Schichten“, erklären Nick Marriner von der Université de Bourgogne und seine Kollegen. „Aber zu unterscheiden, ob diese Schichten durch einen Sturm oder einen Tsunami verursacht wurden, ist eine der schwierigsten und umstrittensten Fragen in der Küstengeologe.“
Häufungen alle 1.500 Jahre
Um mehr Klarheit zu schaffen, haben die Forscher nun geologische Daten zu 135 vermeintlichen Tsunami-Ereignissen zusammengetragen und analysiert. Sie stammen aus dem gesamten Mittelmeerraum und umfassen die letzten 4.5000 Jahre. „Dies ist damit die erste geologische Tsunami-Chronologie des Mittelmeerraums mit einer zeitlichen Auflösung von Jahrzehnten“, sagen Marriner und seine Kollegen.
Ihre Rekonstruktion der Tsunami-Geschichte zeigte etwas Überraschendes: Offenbar häuften sich zu bestimmten Zeiten die von Tsunamis ausgelösten Fluten. „Diese Ereignis-Spitzen liegen in der Zeit vor rund 200 Jahren, vor 1.600 Jahren und vor 3.100 Jahren“, berichten die Wissenschaftler. Was aber löste diese im Abstand von rund 1.500 Jahren wiederkehrenden Häufungen aus?
Zeitliche Übereinstimmung mit Sturmphasen
Die Forscher suchten in historischen Aufzeichnungen nach Hinweisen auf eine vergleichbare Häufung von Erdbeben oder großen Vulkanausbrüchen – aber vergebens. „Im Gegensatz zu den stratigrafischen Tsunamidaten ergeben die Analysen historischer Daten keine statistisch signifikanten Häufungen“, konstatieren sie. Das spricht ihrer Ansicht nach eher dagegen, dass diese Ablagerungen tatsächlich von Tsunamis stammen.
Fündig wurden die Wissenschaftler stattdessen, als sie in der Klimageschichte nach ähnlichen Zyklen suchten: „Die 1.5000 Jahres-Zyklen stimmen sehr gut mit Phasen kühlerer und stürmischerer Wetterbedingungen im Nordatlantik und Mittelmeer überein“, berichten Marriner und seine Kollegen. „90 Prozent der als Tsunami-Ablagerungen interpretierten Schichten stammen aus Zeiten erhöhter Sturmaktivität im Mittelmeer.“
90 Prozent stammen gar nicht von Tsunamis
Das aber bedeutet: Bis zu 90 Prozent der als Tsunami-Ereignisse interpretierten Ablagerungen stammen wahrscheinlich gar nicht von Tsunamis. Stattdessen könnten starke Sturmfluten diese durcheinandergewirbelten Sedimente und Gesteinsbrocken hinterlassen haben, so die Schlussfolgerung der Forscher.
Diese neuen Erkenntnisse haben nicht nur Auswirkungen für die Interpretation vergangener Ereignisse. Sie könnten auch die Einschätzung des künftigen Tsunamirisikos im Mittelmeerraum beeinflussen – denn sie basiert auch auf geologischen Daten zur historischen Häufigkeit solcher Ereignisse. „Umso wichtiger ist es, künftig solche Ablagerungen genauer zu überprüfen und auch andere Daten hinzuzuziehen“, betonen Marriner und seine Kollegen. (Science Advances, 2017; doi: 10.1126/sciadv.1700485)
(AAAS, 16.10.2017 – NPO)