Fallout bis nach Tahiti: Die französischen Atombombentests im Pazifik haben mehr Radioaktivität freigesetzt als von Frankreich zugegeben. Auswertungen von lange geheimen Dokumenten enthüllen, dass der Fallout bis nach Tahiti reichte und dass mehr als 110.000 Menschen einer potenziell schädlichen Strahlendosis ausgesetzt wurden – zehnmal mehr als bislang offiziell verlautbart. Entschädigt oder als Opfer der Atombombentests anerkannt wurden aber nur wenige hundert Polynesier.
Zwischen 1945 und Mitte der 1960er Jahre führten vor allem die USA zahlreiche Atomwaffentests im Pazifik durch – unter anderem im bis heute verstrahlten Bikini-Atoll. Reste des Fallouts dieser radioaktiven Bombenexplosionen sind bis heute in der Erdatmosphäre und sogar im Marianengraben nachweisbar. Aber auch Frankreich nutzte die Südsee als Testfeld für seine Atomwaffen: Von 1966 bis 1993 führte das Land dort 193 Kernwaffentests durch, 46 davon waren oberirdische Tests in den Atollen Mururoa und Fangataufa in Französisch-Polynesien.
„Moruroa Files“ geben Blick hinter die Kulissen
Doch welche Folgen die französischen Atomwaffentests hatten und wie stark damals die Umwelt tatsächlich radioaktiv verseucht wurde, blieb bislang unklar – die französische Regierung hielt entsprechende Dokumente geheim. Erst nach einem langen Rechtstreit mit polynesischen und französischen Initiativen mussten im Jahr 2013 rund 233 Dokumente des französischen Verteidigungsministeriums öffentlich gemacht werden. Sie behandeln vor allem Gutachten und Schriftverkehr zu 41 Atomtests zwischen 1966 und 1974.
Diese rund 2.000 Seiten starken „Moruroa Files“ haben nun Wissenschaftler des Forschungskollektivs INTERPRT ausgewertet und im Internet öffentlich zugänglich gemacht. Ein Schwerpunkt ihrer Untersuchung war es, das tatsächliche Ausmaß der radioaktiven Kontamination und der möglichen Spätfolgen der Kernwaffentests zu ermitteln. Dafür befragte das Team zusätzlich Bewohner der polynesischen Atolle, aber auch ehemalige Militärangehörige und Mitarbeiter französischer Behörden.
Verstrahlung bis nach Tahiti
Die Untersuchungen enthüllten: Der Fallout der Atombombentests reichte weiter als von den französischen Behörden angegeben und die radioaktive Belastung war bei fast allen Messungen höher als zunächst veröffentlicht. Die Verseuchung reichte bis ins fast 1.200 Kilometer entfernte Tahiti und seinen Nachbarinseln. Messungen zufolge waren die Menschen dort einer Strahlenbelastung von deutlich mehr als einem Millisievert ausgesetzt, wie die Forscher berichten.
„Tahiti war und ist die bevölkerungsreichste Insel in Französisch-Polynesien und die Menschen dort wurden radioaktiv verstrahlt, ohne dass sie es wussten“, sagt Koautor Nabil Ahmed von der Norwegischen Universität für Technologie und Wissenschaft in Trondheim. Beim Centaure-Test im Jahr 1974 erreichten die Strahlendosen auf einige der Inseln Tahitis sogar Werte von bis zu zehn Millisievert.
Das aber bedeutet, dass bei diesen Atomwaffentests deutlich mehr Menschen potenziell gesundheitsschädlichen Strahlendosen ausgesetzt waren als von Frankreich zugegeben. „Während der atmosphärischen Testexplosionen könnten mehr als 110.000 Menschen in Tahiti, Gambier und Tureia radioaktive Dosen oberhalb der als sicher angenommenen Werte bekommen haben“, sagt Ahmed.
Mehr Krebsfälle durch den Fallout
Laut offiziellen Angaben sollen damals jedoch nur rund 10.000 Menschen einem Fallout von mehr als einem Millisievert ausgesetzt gewesen sein – und eine Entschädigung bekam ein Bruchteil davon. „Die meisten Entschädigungen gingen an Menschen aus Frankreich. Von den Einwohnern Französisch-Polynesiens durften nur einige hundert eine Kompensation beantragen und davon wurden 80 Prozent der Anträge abgelehnt“, berichten die Forscher. Als berechtigt galten nur die Fälle, in denen eine Krebserkrankung eindeutig auf den Fallout zurückgeführt werden konnte. Dieser Zusammenhang ist aber schwer zu beweisen und wurde meist abgestritten.
Aus den Dokumenten der Moruroa Files geht nun jedoch hervor, dass die französischen Behörden und Gutachter sich der vermehrten Krebsfälle auf den Inseln durchaus bewusst waren. Aus einer Behörden-E-Mail aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass das französische Verteidigungsministerium allein bei den 6.000 in den Atollen rund um die Testorte stationierten Armeeangehörigen mit einem deutlich erhöhten Krebsrate rechnete: Sie schätzten, dass rund ein Drittel der Betroffenen einen radioaktiv bedingten Krebs entwickeln würde.
Ein erst im Februar 2020 erstellter Bericht beschreibt zudem erstmals offiziell eine Häufung von Schilddrüsenkrebs-Fällen auf den Gambier-Inseln, der dem Mururoa- und Fangataufa-Atoll benachbarten Inselgruppe. Ein französischer Mediziner kommt darin zu dem Schluss, dass diese Häufung „wenig Zweifel über die Rolle der ionisierenden Strahlung für die Entstehung dieser Krebsfälle lässt“.
Wetterberichte ignoriert
Und noch etwas decken die Moruroa Files auf: Anders als zuvor behauptet, kannte das französische Oberkommando die Gefahren, die von den beiden atmosphärischen Atombombentests „Aldebaran“ im Juli 1966 und „Centaure“ im Juli 1974 ausging. Bisher wurde behauptet, dass die große radioaktive Belastung durch diese beiden Tests durch einen unvorhersehbaren Wechsel der Wetterbedingungen zustande kam.
Doch die Dokumente belegen, dass das Militär schon drei Stunden vor Zündung der Aldebaran-Bombe wusste, dass sich der Wind gedreht hatte und er nun von Mururoa aus direkt auf Mangareva zuwehte, die dicht bevölkerte Hauptinsel des Gambier-Archipels. Unter diesen Bedingungen hätte die Bombe auch nach offiziellen Richtlinien an diesem Tag nicht gezündet werden dürfen, wie das Forschungskollektiv erklärt.
Ein zweites Dokument vom November 1974 verrät, dass der Wetterbericht für die Explosion der Centaure-Bombe ebenfalls ungünstige Windbedingungen vorhersagte: Schon mehrere Tage vorher prognostizierten die Meteorologen für den Tag des Atombombentests eine vorherrschende Luftströmung in Richtung Tahiti – dennoch entschied man sich für die Zündung der Bombe. 48 Stunden später erreichte der Fallout das damals rund 80.000 Einwohner zählende Tahiti.
Website der Moruroa Files mit Zugriff auf alle Dokumente
Quelle: Moruroa Files, NTNU/ SINTEF