Eine zahlenmäßige Übermacht könnte der Grund sein, warum der moderne Mensch den Neandertaler im urzeitlichen Europa verdrängte. Denn in der Zeit vor 55.000 bis 35.000 Jahren wuchs die Population des aus Afrika einwandernden Homo sapiens schnell um das Zehnfache. Das berichten britische Forscher im Fachmagazin „Science“. Allein diese Bevölkerungszunahme müsse schon ein starker, wenn nicht sogar überwältigender Faktor im direkten Wettbewerb zwischen beiden Menschenarten gewesen sein.
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„Jeder Verdrängungsprozess und jedes Aussterben reduzieren sich letztlich auf eine Frage der Zahlen: die Zunahme der eintreffenden Populationen gegen die Abnahme der ansässigen“, sagen Paul Mellars und Jennifer French von der Cambridge University. Für die Ablösung des Neandertalers durch den modernen Menschen habe es aber solche Zahlen bisher nicht gegeben. Für ihre Studie werteten die Wissenschaftler archäologische Funde von Lagerstätten, Steinwerkzeugen und anderen Relikten beider Menschenarten in Südfrankreich aus. In dieser Region liegen mehr bekannte frühmenschliche Siedlungsspuren als irgendwo sonst in Europa. Die Vergleiche ergaben, dass sich sowohl die Menge als auch die Dichte der Homo sapiens-Relikte vor rund 40.000 Jahren fast sprunghaft erhöhte.
„Die genauen technologischen, ökonomischen, sozialen oder biologischen Mechanismen werden noch diskutiert, die es den modernen Menschen ermöglichten, unter gleichen Umweltbedingungen sehr viel höhere Populationsdichten zu erreichen“, sagen die Forscher. Klar sei aber, dass die Überzahl letztlich der ausschlaggebende Faktor gewesen sein muss.
Einwanderung des Homo sapiens beendete Neandertaler-Ära
Bis vor rund 45.000 Jahren war der Homo neanderthalensis die dominierende Menschenart in Europa. Dann wanderte der anatomisch und genetisch modernere Homo sapiens aus Afrika ein. Wenige Jahrtausende später starb der Neandertaler aus.
Als mögliche Gründe für diese Verdrängung gelten unter anderem fortgeschrittenere Jagdtechniken, eine bessere Sozialstruktur oder ein höherer Fortpflanzungserfolg. Aber auch Änderungen in Klima und Umwelt, die den Homo sapiens begünstigten, könnten eine Rolle gespielt haben. Letztlich war es nach Ansicht der britischen Forscher jedoch vor allem der Unterschied in den Populationsgrößen, der dem Neandertaler den Todesstoß versetzte.
Steinwerkzeuge und Tierknochen als Indikatoren
Für ihre Studie betrachteten Mellars und French drei archäologische Indikatoren für die Populationsgröße beider Menschenarten: Sie verglichen die Anzahl der bekannten Lagerstätten im Untersuchungsgebiet sowie die Fläche, die diese Siedlungsspuren einnahmen. Außerdem werteten sie die Menge an Werkzeugen und Tierknochen innerhalb dieser Fundstätten aus, um daraus Informationen über die jeweilige Besiedlungsdichte zu erhalten.
Aus den Funddaten ergab sich, dass die Bevölkerungsdichte des modernen Menschen vor rund 40.000 Jahren um eine ganze Größenordnung zunahm. „Diese Ergebnisse stimmen weitestgehend mit denen von DNA-Analysen beider Menschenarten überein, die ebenfalls Hinweise auf sich verändernde Populationsgrößen und -dichten gaben“, sagen die Forscher. Es sei nun sinnvoll, solche archäologischen Analysen auch in anderen Regionen Europas durchzuführen. Damit könne die Natur und das Ausmaß der demografischen Veränderungen während des Übergangs vom Neandertaler zum modernen Menschen weiter geklärt werden. (Science, 2011; DOI: 10.1126/science.1206930)
(Science / dapd, 29.07.2011 – NPO)