Der Speiseplan der Neandertaler war erheblich vielfältiger als bisher gedacht und unterschied sich je nach Lebensraum deutlich. Dies belegt erneut eine jüngst in der Fachzeitschrift „PloS ONE“ erschienene Studie eines internationalen Forscherteams. Sie widerlegt damit endgültig bisher existierende Vorstellungen einer artspezifischen Ernährung, die angeblich vor allem auf Fleischkonsum beruhte.
„Wir können jetzt sagen, dass der Küchenzettel von Homo neanderthalensis öko-geografisch ausgerichtet war“, fasst Luca Fiorenza vom Senckenberg Forschungsinstitut und Erstautor der Studie die Ergebnisse zusammen. Neandertaler, aber auch Homo sapiens fanden und nutzten demnach in der Mittelmeerregion anderes für ihren Speiseplan, als die Bewohner nördlicher Gefilde.
Steinzeitliche Küchendebatten
Lange war man unter Wissenschaftlern von einer Neandertalerspezifisch spezialisierten Ernährung ausgegangen. Dazu gehörte, dass der frühe Homo sapiens zwar auch jagte, aber noch weitere Ressourcen nutzte und damit flexibler in der Nahrungswahl war als sein direkter Nachbar, der Neandertaler. Dem früher auch als etwas tumb dargestellten Frühmenschen schrieb man indessen fast ausschließlich Fleisch ins Küchentagebuch.
Jedoch fand man in den Höhlenablagerungen der israelischen Neandertaler-Fundstellen Amud und Kebara auch Überreste von Pistazien, Eicheln und Gemüsepflanzen. Eine Verarbeitung von Grünzeug zeigen auch die Steinwerkzeuge aus La Quina in Frankreich. Nicht zuletzt lassen die erst kürzlich entdeckten Mikrofossilien von Pflanzenresten im Zahnstein von „Shanidar 3“ aus dem Nordirak und eine große Variation in den Mikroabnutzungsspuren auf dem Zahnschmelz diese eingeschränkte Interpretation einer einseitigen Fleischkost nicht mehr zu.
Endgültigen Aufschluss gab nun insbesondere die im Team von Ottmar Kullmer am Senckenberg Forschungsinstitut entwickelte „Occlusal Fingerprint Analysis-Methode“ (OFA). Bei der Untersuchung von Backenzähnen zeigte sich eine erhebliche Variabilität in der makroskopischen Abnutzung des Zahnreliefs in Abhängigkeit von der Fundregion und dem repräsentierten prähistorischen Zeitraum. Die Zahnproben von Neandertaler-Individuen aus identischen öko-geographischen Regionen zeigen dagegen ähnliche nahrungsbedingte Abnutzungserscheinungen auf den Kauflächen.
War das Naheliegende so fern?
Eigentlich leuchtet ein, dass die menschlichen Vertreter der Steinzeit einfacherweise all das auf der Speisekarte hatten, was in der Umgebung so zu finden war. Dennoch blieb es lange bei einer generellen Überbewertung des Fleischanteils in der Neandertalerküche. Ein Grund war laut Fiorenza, dass Knochen eher fossilisieren als Pflanzen und somit natürlich beispielsweise die Jagdreste der Neandertaler eher überliefert sind als pflanzliche Belege der Ernährung. Es wurden deshalb auch viele der bisherigen Untersuchungen an den fossilen Knochenresten durchgeführt.
Außerdem berücksichtigten Forscher bei früheren Studien zur Neandertalerernährung häufig Proben aus Zeiten mit kühlerem Klima. Die Variabilität in der Ernährung ließ sich somit nur grob einschätzen. Auch wenn die aktuelle Senckenberg-Studie erweiterte Ergebnisse zur Nahrungsvielfalt der Neandertaler bietet, sieht der Wissenschaftler die vorliegende Arbeit nur als Teil einer umfassenden Untersuchung zum Verständnis der Entwicklung und Ausbreitung der Neandertaler und des frühen Homo sapiens.
Zeige mir deine Zähne und ich sage dir, was du isst
Denn die Nahrung verändert das Zahnrelief. Die dabei entstehenden Spuren verdichten sich im Laufe eines Lebens zu einem charakteristischen Muster auf den Zahnoberflächen. Dazu erklärt Kullmer: „Bei fossilen und existierenden Arten können wir mit der neuen OFA-Methode die Kaumuster analysieren und die Ernährungsgewohnheiten sehr genau interpretieren.“
Dazu formen die Wissenschaftler die Backenzähne mit Präzisionskunststoff ab. Aus den so entstandenen Negativen werden Positiv-Modelle erstellt, die eine Fülle von Informationen enthalten. Eingescannt lassen sich die Nachbildungen dann in hoher Auflösung und dreidimensional von allen Seiten am Bildschirm betrachten und präzise vermessen.
Was sich in Super-Makro zeigt, ähnelt einer topografischen Landkarte: Neben Furchen und Rillen ragen Höcker in die Landschaft der Kaufläche. Auch stark abgetragene Flächen mit deutlichen Schleifspuren sind zu erkennen. „Das sind Facetten, die sich im Kontakt mit dem Gegenzahn im Unterkiefer gebildet haben“, erläutert Kullmer.
Vielsagende Gebrauchsspuren
Wie der Senckenberg-Wissenschaftler weiter erklärt, sind die Facetten je nach Beschaffenheit der Nahrung unterschiedlich ausgeprägt und bilden sich auch an verschiedenen Stellen. „Der Kauvorgang passt sich dem an, was ein Individuum so zwischen die Zähne bekommt.“ Und je nachdem wo Neandertaler und/oder frühe Menschen lebten, fiel das unterschiedlich aus. Kullmer dazu: „Der Kauvorgang lässt sich in zwei Phasen einteilen. Zunächst wird die Nahrung grob zerkleinert und dann zermahlen“.
Und je nachdem, ob nun festes Material zerkaut wird, wie Wurzeln und Stängel, weichere Pflanzenteile wie Früchte und Keime oder faseriges Fleisch, fällt der Kontakt zwischen den Zähnen aus. Das heißt, die Interpretation der Ernährung basiert auf einem Vergleich dieser Gebrauchsspuren. „Und danach lässt sich auch die Beziehung zwischen der Nahrung und den öko-geografischen Unterschieden des Lebensraums bestimmen“, fasst Kullmer zusammen.
Bild des Neandertalers korrigiert
„Unsere Analysen belegen nun eindeutig, dass die Ernährung beider Vertreter der Gattung Homo insgesamt vielseitig war und vor allem von den öko-geografischen Gegebenheiten bestimmt wurde“, sagt Fiorenza und ergänzt: „Das widerlegt die Auffassung von einer Neandertalerspezifisch spezialisierten Nahrungsstrategie und korrigiert das Bild vom allein Fleisch verzehrenden Neandertaler.“
Insgesamt haben die Wissenschaftler die Kauflächen von 73 Oberkiefermolaren bis zur kleinsten Kontaktfacette untersucht und verglichen. Neben Analysen von Neandertalern und frühen Homo sapiens aus unterschiedlichen Regionen wurden auch die Backenzähne von Naturvölkern einbezogen, die sowohl überwiegend Fleisch als auch Mischkost verzehrten. Dazu gehören Inuit, Bewohner der Vancouver Inseln, Feuerländer, Aborigines und die Khoisan aus dem Süden Afrikas.
Mit berücksichtigt sind den Forschern zufolge zudem Lebensraumdaten über die Tierwelt, die Vegetation und die Böden. Analog zum Nord-Süd-Gefälle des Lebensraums, den Neandertaler und früher Mensch sich annähernd 200.000 Jahre lang teilten, wurden die Daten drei öko-geographischen Regionen – Laubwald, mediterranes Immergrün, Steppe/Nadelwald – zugeordnet, mit denen die Ergebnisse der OFA-Methode korrelieren. (PLoS ONE, 2011; doi:10.1371/journal.pone.0014769)
(Senckenberg Research Institute and Natural History Museum, 04.05.2011 – DLO)