Es ist noch nicht vorbei: Das Erdbeben im April 2015 in Nepal hat nur einen Teil der Spannungen im Untergrund abgebaut. Ein großer Teil der Himalaya-Hauptverwerfung westlich des Epizentrums ist noch immer verhakt, wie Forscher herausgefunden haben. Das „Große Beben“ könnte dort noch bevorstehen. Zudem ist Kathmandu sogar noch glimpflich davon gekommen: Das Beben war ungewöhnlich „sanft“, so die Forscher in gleich zwei Artikeln in „Nature Geoscience“ und in „Science“.
Am 25. April 2015 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,8 Nepal, mehr als 9.000 Menschen starben, viele Dörfer und Teile Kathmandus wurden zerstört. Auslöser war ein Bruch an der Himalaya-Hauptverwerfung, der Nahtstelle, an der sich der indischen Kontinent mit rund zwei Zentimetern pro Jahr unter die asiatische Platte schiebt. Der Ursprung dieses Bruchs und damit das Epizentrum des Bebens lag rund 80 Kilometer westlich von Kathmandu nahe der Stadt Gorkha.
„Der Bruch breitet sich entlang der Himalaya-Verwerfung rund 140 Kilometer nach Osten aus“, berichten Jean-Philippe Avouac von der University of Cambridge und seine Kollegen. In diesem Bereich sind die beiden Platten schon länger ineinander verhakt, so dass sich Spannungen im Untergrund aufgestaut haben. Das Beben riss einen Teil dieser verhakten Plattengrenze auf und baute diese Spannungen ab, wie seismische Messungen zeigen.
Noch immer verhakt
Doch diese Entlastung erfasste nur einen kleinen Teil der verhakten Verwerfung, wie die Forscher berichten. „Das Gorkha-Beben hat es nicht geschafft, die Deformation bis zur Front des Himalayas zu übertragen“, erklärt Avouac. Ein rund 800 Kilometer langer Abschnitt entlang der Himalaya-Hauptverwerfung ist noch immer eine seismische Lücke – hier hat es seit 500 Jahren kein entlastendes Beben mehr gegeben. Das letzte Beben an diesem Abschnitt ereignete sich 1505 und könnte sogar die Magnitude 8,5 erreicht haben.
Das aber bedeutet, dass dieser Bereich der Nahtstelle westlich des Epizentrums seither unter Druck steht. Die Verwerfung hat bereits ein Verschiebungsdefizit von mehr als zehn Metern angestaut, wie die Wissenschaftler ermittelten. „Der Himalaya könnte daher in der Zukunft noch größere Erdbeben auslösen – wir wissen nur nicht wann“, so Avouac.
Seltsam selektive Wirkung
Kathmandu jedoch hatte Glück im Unglück, wie die Messungen ergaben. Denn es wurden in der Stadt sehr viel weniger Wohngebäude zerstört als bei der Stärke des Bebens zu erwarten war. „Als ich die Nachrichten aus Kathmandu sah, dachte ich erst, es gibt ein Problem mit der Kommunikation, dass wir noch nicht das volle Ausmaß der Schäden erfahren haben“, berichtet Avouac. Für die Bewohner war dies ein Glücksfall, denn sonst hätte es noch mehr Opfer gegeben.
Doch dafür wirkte sich das letzte Erdbeben überproportional stark auf alle höheren Gebäude der Stadt aus: Der Dharahara Turm, der selbst das Erdbeben von 1934 mit der Stärke 8,1 überstand, stürzte ein, ebenso andere historische Bauwerke. Woher diese selektive Wirkung kommt, haben John Galetzka vom California Institute of Technology in Pasadena und sein Team nun herausgefunden.
Ungewöhnlich „sanft“
Wie ihre Messungen ergaben, setzte das Erbeben ungewöhnlich langsam ein: Es dauerte fast zwei Sekunden, bis sich das Gestein nach dem Bruch seine volle Beschleunigung von einem Meter pro Sekunde erreichte. Normalerweise gibt es einen sehr viel schnelleren, härteren Schlag, der mehr Energie und kurzwellige Schwingungen erzeugt. Weil das Gorkha-Beben sanfter ausfiel, fehlten diese hochfrequenten Bebenwellen – und gerade sie sind für normalhohe Gebäude am zerstörerischsten, so die Forscher.
Und noch etwas kam hinzu: Der Bruch der Verwerfung reichte nicht bis an die Oberfläche, was ebenfalls mehr Energie und hochfrequente Wellen freigesetzt hätte. „Das war Glück für Kathmandu“, sagt Avouac. „Wäre das Erdbeben bis zur Oberfläche durchgebrochen, wäre es sehr viel schlimmer gekommen.“
Resonanz zerstörte Dharahara-Turm
Allerdings hatte dies auch Nachteile: Denn es entstanden besonders viele langsame Wellen mit einer Periode von rund fünf Sekunden. Und sie lösten im weichen Seesediment des Beckens von Kathmandu Resonanzschwingungen aus, die den gesamten Untergrund wie eine Glocke 40 Sekunden lang mit Fünf-Sekunden-Wellen nachschwingen ließen.
„Das war genau die richtige Frequenz, um hohe Gebäude wie den Dharahara Turm zu zerstören, denn sie entspricht deren natürlicher Resonanzperiode“, erklärt Avouac. (Nature Geoscience; doi: 10.1038/ngeo2518, Science; doi: 10.1126/science.aac6383)
(California Institute of Technology, 07.08.2015 – NPO)