Düstere Prognose: Nach dem schweren Erdbeben von 2015 droht Nepal eine noch schlimmere Katastrophe. Denn wie eine Simulation enthüllt, folgt in dieser Region auf mehrere mittlere Beben typischerweise ein Mega-Beben der Magnitude 8 und höher. Der Grund: Jeder Teilbruch der Plattengrenze steigert die Spannungen in der restlichen Bruchzone – bis sich das Ganze in einem Extrembeben entlädt. Bis es soweit ist, könnten aber noch einige „normale“ Beben nötig sein, so die Forscher.
Am 25. April 2015 wurde Nepal von einem Erdbeben der Magnitude 7,8 heimgesucht – dem stärksten seit 80 Jahren. Innerhalb von Minuten riss der Untergrund auf 120 Kilometern Länge auf und Kathmandu verschob sich um drei Meter nach Süden. Die Erschütterungen zerstörten ganze Dörfer, lösten Lawinen und Erdrutsche aus und töteten rund 9.000 Menschen.
Verhakte Platten
Die Ursache dieser und früherer Erdbeben in der Himalaya-Region ist die Kollision zweier Erdplatten. Die Indische Platte taucht unter die Eurasische ab und lässt eine rund 2.000 Kilometer lange Bruchzone entstehen. Durch Reibung und Verhaken der Platten stauen sich dort immer wieder Spannungen auf – die sich immer wieder in Beben entladen.
Das Problem jedoch: „Beim 2015er-Beben brach nur ein Teil des Bruchsystems. Der vorderste, oberflächennahe Teil der Bruchzone, wo die Indische unter die Eurasische Platte abtaucht, riss nicht und steht immer noch unter Spannung“, erklärt Luca Dal Zilio von der ETH Zürich. Indizien dafür hatten Geoforscher bereits kurz nach dem Gorkha-Beben aufgedeckt – und schon damals warnten sie vor einem noch bevorstehenden Mega-Beben in der Region.
Wie groß das Risiko für ein solches Mega-Erdbeben ist, haben nun Dal Zilio und sein Team mithilfe geophysikalischer Simulationen näher untersucht.
Zwei Formen von Erdbeben
Das Ergebnis: „Mit dem neuen Modell erkennen wir, dass es nicht nur eine Form von starken Erdbeben im Himalaja gibt, sondern mindestens zwei, deren Zyklen sich teilweise überlagern“, berichtet Edi Kissling von der ETH Zürich. Dabei treten mittelstarke Erdbeben wie 2015 typischerweise alle paar hundert Jahre auf und entladen nur einen kleinen Teil der Spannungen entlang der Bruchzone.
Anders ist dies bei Mega-Beben von Magnituden höher als 8. Sie reißen die gesamte Bruchzone auf und können zu einem Versatz von mehr als acht Metern zwischen den Bruchrändern führen. Solche extremen Starkbeben jedoch sind deutlich seltener: „Diese stärksten Ereignisse haben alle etwa die gleiche Größe und kehren quasi-periodisch alle rund 1.250 Jahre wieder“, berichten die Forscher.
Zu diesen Mega-Beben gehörte unter anderem das Assam-Beben im Jahr 1950 mit einer Magnitude von 8,6. Dabei riss die Bruchzone auf mehreren hundert Kilometern Länge und über den gesamten Tiefenbereich hinweg auf, wie die Wissenschaftler berichten. 1505 führte ein weiteres dieser Extrem-Beben sogar dazu, dass die Bruchzone auf einer Länge von rund 800 Kilometern brach.
Jedes Beben erhöht das Risiko
Das Überraschende jedoch: Die zahlreicheren mittelstarken Beben senken nicht etwa das Risiko für ein Mega-Beben, sie erhöhen es sogar noch. „Das scheinbar Paradoxe ist, dass die ‚mittelgroßen‘ Beben wie das Gorkha-Beben erst die Voraussetzungen für ein Mega-Beben schaffen“, sagt Dal Zilio. Denn die schwächeren Erdbeben entladen nur einen Teil der Spannungen in tieferen Bereichen der Kollisionszone. Gleichzeitig jedoch führt das Nachgeben des Gesteins bei diesen Beben dazu, dass sich in oberflächennahen Bereichen neue und noch stärkere Spannungen aufbauen.
Genau dies ist auch nach dem Gorkha-Beben von 2015 geschehen: Weil die Bruchzone nur auf rund 200 Kilometern aufriss, stehen die Gebiet jenseits davon umso mehr unter Druck. Immerhin: Bis das nächste Mega-Beben kommt, könnte es noch etwas dauern. Denn den Simulationen zufolge sind zwei bis drei weitere Beben dieser Stärke nötig, um genügend Spannung für ein Erdbeben der Magnitude 8,1 oder höher aufzubauen.
Wann dieses allerdings eintreten wird, können die Forscher nicht voraussagen. „Niemand kann Erdbeben voraussagen, auch nicht das neue Modell. Wir können jedoch die seismische Gefährdung in einem Gebiet besser verstehen und entsprechende Vorsorge treffen“, sagt Dal Zilio. (Nature Communications, 2019; doi: 10.1038/s41467-018-07874-8)
Quelle: Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)