Überraschende Entdeckung: Rund 150 Kilometer unter unseren Füßen liegt eine zuvor unerkannte Grenzschicht im oberen Erdmantel. Sie markiert das Ende einer wahrscheinlich globalen Zone, in der die unter den Erdplatten liegende Schicht, die Asthenosphäre, nicht nur plastisch verformbar, sondern auch teilweise aufgeschmolzen ist. Flüssiges Magma kommt demnach nicht nur in Vulkanregionen vor, sondern ist in geringen Anteilen überall unter den Erdplatten präsent, wie Forschende in „Nature Geoscience“ berichten.
Die Lithosphäre bildet die äußere feste Hülle der Erde. Sie besteht aus der Erdkruste und einem kleinen, erstarrten Teil des Erdmantels und ist je nach Lage zwischen 60 und 200 Kilometer dick. Aus ihr bestehen die Erdplatten, die wie Schollen auf der wärmeren, weicheren Asthenosphäre schwimmen. In dieser Schicht des Erdmantels ist das Gestein plastisch verformbar, aber nicht komplett geschmolzen. Gängiger Annahme nach enthält die Asthenosphäre nur lokal Bereiche schmelzflüssigen Magmas, beispielsweise in den Vulkanregionen.
Abrupter Sprung in 150 Kilometer Tiefe
Doch jetzt enthüllt eine seismische Kartierung: Im oberen Bereich der Asthenosphäre ist das Gestein auch abseits der Vulkangebiete teilweise aufgeschmolzen. Entdeckt haben dies Junlin Hua von University of Texas in Austin und seine Kollegen, als sie seismische Daten von 716 Messtationen weltweit mithilfe eines speziellen Verfahrens auswerteten. Dabei suchten sie nach Verlangsamungen und Streuungen der Bebenwellen, wie sie unter anderem durch Veränderungen der Festigkeit und des Aggregatzustands von Gestein verursacht werden.
Die Auswertungen enthüllten: In rund 150 Kilometer Tiefe gibt es eine Grenzschicht in der Asthenosphäre, in der sich die Laufzeiten der seismischen Wellen abrupt ändern. Oberhalb dieser Grenzschicht werden die Bebenwellen deutlich abgebremst. Dann jedoch macht die Wellengeschwindigkeit einen abrupten Sprung um rund vier Prozent und beschleunigt sich wieder. „Diese PVG-150-Grenze ist auch außerhalb der Hotspots vorhanden, sie ist demnach nicht auf von Mantelplumes geprägte Bereiche beschränkt“, berichten Hua und seine Kollegen.
Geschmolzenes Gestein überall
Die Forschenden konnten diese Grenzschicht unter 44 Prozent der Erdoberfläche nachweisen. Weil aber die meisten Messstationen auf dem Land liegen und die Ozeane in den Daten kaum vertreten waren, gehen sie von einer wahrscheinlich globalen Ausdehnung aus. Demnach könnte überall auf der Welt die obere, direkt unter den festen Erdplatten liegende Schicht durch diese 150-Kilometer-Grenze vom Rest der Asthenosphäre abgegrenzt sein. Warum das so ist, haben Hua und sein Team dann mithilfe geophysikalischer Modelle näher untersucht.
Das Ergebnis: Weder der Wassergehalt des Mantelgesteins noch Unterschiede in der Mineralzusammensetzung oder Temperaturschwankungen können die seismische Grenzschicht in der Asthenosphäre erklären. Stattdessen scheint der Aggregatzustand des Gesteins der Urheber zu sein: „Die PVG-150-Grenze lässt sich am besten als Unterrand einer Asthenosphärenschicht erklären, in der ein teilweises Aufschmelzen des Gesteins die seismischen Geschwindigkeiten absenkt“, konstatieren die Wissenschaftler. Der Anteil geschmolzenen Gesteins liegt bei einem bis fünf Prozent.
Hat dies Einfluss auf die Plattenbewegung?
Doch was bedeutet dieser, wenn auch geringe Anteil der Gesteinsschmelze für die Bewegung der auf ihr schwimmenden Erdplatten? „Wenn etwas schmilzt, glauben wir intuitiv, dass dieses Schmelzen auch für die Viskosität des Materials eine große Rolle spielt“, sagt Hua. Es läge daher nahe anzunehmen, dass eine Schicht mit teilweise schmelzflüssigem Gestein beweglicher ist und so beispielsweise die Plattentektonik beeinflusst.
Doch nähere Analysen widerlegten dies: „Selbst dort, wie der Anteil geschmolzenen Gesteins höher war, war die Auswirkung auf die Mantelströmungen gering“, berichtet Hua. Offenbar ändert die Präsenz der Gesteinsschmelze zwar die Laufzeiten der seismischen Wellen, nicht aber die Viskosität der Asthenosphäre. Diese wird weiterhin primär von Temperaturen und Druckschwankungen bestimmt. Allerdings schließe dies nicht aus, das lokale Häufungen von schmelzflüssigem Magma die Plattentektonik durchaus beeinflussen können, betonen die Wissenschaftler.
Mehr Einblick in die Eigenheiten der Asthenosphäre
Die neuen Erkenntnisse sind in jedem Falle wichtig, um Modelle der Asthenosphäre und der Plattentektonik weiter zu präzisieren. Gleichzeitig liefern sie wertvolle Einblicke darin, was unter den driftenden Erdplatten vor sich geht. „Die Eigenschaften der Asthenosphäre und die Ursachen ihrer plastischen Verformbarkeit zu verstehen, ist für unser Verständnis der Plattentektonik fundamental“, sagt Seniorautorin Karen Fischer von der Brown University. (Nature Geoscience, 2023; doi: 10.1038/s41561-022-01116-9)
Quelle: University of Texas at Austin