Noch vor hundert Jahren zogen sie in Massen durch Europas Flüsse, heute sind die Europäischen Störe längst vom Aussterben bedroht. Nur in Frankreich an der Gironde existiert noch eine letzte kleine Population in freier Wildbahn. In „Gefangenschaft“ jedoch gibt es nur selten Nachwuchs. Das könnte sich nun bald ändern: Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin haben in ihrer Störpopulation ein Tier entdeckt, indem bereits Eier heranreifen. Es wäre das erste Mal seit mehr als zehn Jahren, dass eine künstliche Vermehrung klappen könnte.
Männchen oder Weibchen? Bei den meisten Tieren ist die Frage allein durch Anschauen zu klären, doch bei Stören gibt es ein Problem: "Die Tiere haben keine äußeren Geschlechtsmerkmale", sagt Frank Kirschbaum. Der Professor am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) ist Herr über eine Population von 18 Europäischen Stören (Acipenser sturio), die seit 1996 am IGB schwimmen.
Die ganze Zeit über wusste Kirschbaum nichts über das Geschlechterverhältnis seiner Fische. Ende 2005 war es dann so weit: Die Wissenschaftler entnahmen den mehr als einen Meter lang gewordenen Fischen Gewebeproben, um das Geschlecht feststellen zu können. Dabei erlebten sie eine Riesenüberraschung: Sie fanden fast reife Eier in einem der Fische. "Das war für mich wie ein Weihnachtsgeschenk", erinnert sich Kirschbaum.
Wann sind die Eier reif?
Auch das Ergebnis der anderen Biopsien war erfreulich: "Wir testeten die elf größten unserer Fische und ermittelten fünf Weibchen und sechs reifende Männchen", berichtet Kirschbaum. Beste Voraussetzungen also für den Aufbau einer Zucht dieser vom Aussterben bedrohten Riesenfische. Doch bis es Nachwuchs gibt, sind noch viele Fragen zu klären. So wissen die Forscher nicht, wann die Bildung der Eier, die so genannte Vitellogenese, bei dem Weibchen angefangen hat. Sie können daher auch nur sehr grob abschätzen, wann die Eier reif sind – "Ende des Jahres vielleicht", sagt Kirschbaum.
Der Bestand am IGB stammt aus Frankreich. Die Tiere, die mehr als vier Meter lang werden können, waren noch vor hundert Jahren in vielen Zuflüssen der Nordsee und des östlichen Atlantiks, des Mittelmeers und des Schwarzen Meers heimisch. Überfischung und die Zerstörung der Laichplätze in den Flüssen haben den Europäischen Stör jedoch nahezu flächendeckend ausgerottet.
Daher ist es nicht nur Kirschbaums Team am IGB, das auf einen Zuchterfolg aus dem Bestand am Müggelsee wartet. Experten aus ganz Europa blicken gespannt nach Berlin. "Wir kooperieren mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und aus Polen", sagt Kirschbaum. "Unsere französischen Partner und wir sind allerdings die einzigen, die Acipenser sturio vermehren könnten." 1995 war es Wissenschaftlern an der Gironde gelungen, Eier eines Weibchens zu befruchten und aus den Larven kleine Störe aufzuziehen.
1996 kamen vierzig dieser Jungfische ans IGB, was auch den Beginn des aktuellen Vorhabens mit Förderung durch das Bundesforschungsministerium (BMBF) und das Bundesamt für Naturschutz (BfN) markierte. Leider waren trotz aller Bemühungen zur Optimierung der Haltung einige Verluste in den Beständen zu beklagen. Und auch in Frankreich ist seither keine Nachzucht mehr gelungen. Vor diesem Hintergrund ist die Freude Kirschbaums über das "schwangere" Weibchen nur zu verständlich.
Wanderer zwischen den Welten
Freilich, bei seinem Projekt geht es um mehr als die Nachzucht einer extrem bedrohten Art. "Wir haben es mit einigen sehr interessanten biologischen Fragestellungen zu tun", erläutert der Fischexperte. Das fängt schon bei der ursprünglichen Verbreitung der riesigen Fische an. Ähnlich wie Lachse wandern die Störe zwischen Flüssen und Ozeanen. In Kanada gibt es noch Bestände, die kommerziell befischt werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine Art als die, die früher in Nord- und Ostsee vorkam, nämlich um den Amerikanischen Atlantischen Stör Acipenser oxyrinchus.
Es waren Arbeiten am IGB, die vor wenigen Jahren aufklärten, dass A. oxyrinchus bereits im Mittelalter seine europäischen Verwandten aus der Ostsee verdrängt hatte. Für die Pläne zur Wiederansiedlung bedeutete diese Erkenntnis eine Neuorientierung: In die Zuflüsse der Ostsee könnten nun die leichter zu beschaffenden Amerikanischen Atlantischen Störe eingesetzt werden, dagegen würde man für die Nordsee weiterhin an der Zucht und Wiedereinbürgerung von A. sturio arbeiten.
Sender erlauben Verfolgung der Störe
Ganz so klar ist der Fall allerdings für Kirschbaum nicht. "Es gibt neuere Ergebnisse, die zeigen, dass beide Arten in der Ostsee gemeinsam existierten und sich dort sogar vermischten." Die Frage nach der Art und Weise, wie es zu der Verdrängung der A. sturio in der Ostsee kam, ist derzeit Gegenstand weiterer Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der Universität Potsdam.
Ein erster experimenteller Besatz mit Jungfischen von A. oxyrinchus wird im April 2006 in der Oder erfolgen. Die Fische werden mit Sendern versehen, um eine Verfolgung zu ermöglichen, in deren Rahmen die Nutzung der Lebensräume und die Risikofaktoren für die Fische bestimmt werden sollen. Ob daraus jedoch später ein Massenbesatz wird, hängt von den Ergebnissen der laufenden Untersuchungen ab.
Die Wissenschaftler am IGB forschen derzeit zu grundlegenden Fragestellungen der Reproduktionsphysiologie der Störe in einem BMBF- Vorhaben. Bevor jedoch an einen Besatz mit A. sturio zu denken ist, muss das Weibchen am IGB zum Laichen gebracht werden. Ein erster Schritt zur erfolgreichen Reproduktion ist bereits getan: Die ersten Männchen in Berlin sind geschlechtsreif. "Sie warten schon auf ihren Einsatz", sagt Kirschbaum lachend.
(idw – Forschungsverbund Berlin, 21.03.2006 – DLO)