Nomaden statt Händler: Viele Routen der berühmten Seidenstraße sind nicht erst durch den Handel entstanden – ihre Wurzeln sind viel älter. Zumindest in den Gebirgsregionen Zentralasiens gehen die Wege auf mehr als 4.000 Jahre alte Zugrouten nomadischer Viehzüchter zurück, wie nun eine Studie nahelegt. Die Händler der Seidenstraße machten sich dann später diese Wege zunutze, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Die Seidenstraße ist eine der berühmtesten Fernhandelsrouten der Geschichte. Über ihr verzweigtes Wegenetz gelangten schon vor mehr als 2.000 Jahren Seide, Gewürze und andere exotische Handelsgüter aus dem Fernen Osten nach Europa. Die Fernhandelsroute förderte aber auch den Austausch von Ideen, Kulturtechniken und Religionen.
Was prägte die Routenwahl?
Doch wie die Seidenstraße entstand und was die Struktur ihres Wegnetzes prägte, war bisher nur teilweise bekannt. „Historische Berichte nennen typischerweise die großen Oasenstädte der Seidenstraße, politische Zentren oder Handelsplätze als die dominanten Knoten dieser transkontinentalen Routen“, erklären Michael Frachetti von der Washington University in St. Louis und seine Kollegen.
Gängiger Annahme nach bildeten sich die Handelswege als die schnellsten und am wenigsten beschwerlichen Verbindungen zwischen diesen Knoten – zumindest im Flachland. Frachetti und seine Kollegen haben nun untersucht, ob dies auch für die beschwerlicheren Abschnitte der Seidenstraße in den Gebirgen Zentralasiens galt.
Viehtrieb als Vorbild?
Ihre Hypothese: Hier könnten die Händler Wege genutzt haben, die schon lange vor ihnen und der Ära des Fernhandels bestanden. Denn schon vor rund 4.500 Jahren lebten dort lokale Nomadenstämme, die ihre Viehherden im Sommer auf die Berge und im Winter in die Täler trieben. Ihre Zugrouten wählten diese Nomaden danach aus, ob ihre Tiere während der Wanderung genügend Weiden und Wasser finden würden.
Gehen die Seidenstraßen-Routen möglicherweise auf diese Nomadenwege zurück? Um das herauszufinden, rekonstruierten die Forscher mit Hilfe eines Modells die wahrscheinlichsten Viehtriebs-Wege in Zentralasien. Ihre Simulation ermittelten, welche Wege für Viehherden gangbar gewesen wären und die beste Versorgung der Tiere boten.
Deutliche Übereinstimmung
Das Ergebnis: Mit Hilfe der Simulation konnten die alten Viehtriebswege der Nomaden rekonstruieren. Viele kleine Pfaden in den Hochlagen vereinten sich dabei in den niedrigeren Gebieten zu immer größeren Wegen. „Daraus ergibt sich ein interregionales Netzwerk von Routen, die Gebiete und Orte in Zentralasien miteinander verbinden“, berichten Frachetti und seine Kollegen.
Der Vergleich mit den Orten und Stationen der Seidenstraße ergab eine deutliche Übereinstimmung: Immerhin knapp 60 Prozent der 258 Handelsposten im Untersuchungsgebiet lagen direkt auf den rekonstruierten Nomadenwegen. Nach Ansicht der Forscher könnten sich entlang einiger der alten Herdenwege zudem noch Seidenstraßen-Stationen verbergen, die bisher von Archäologen nicht gefunden wurden.
Funktionswechsel uralter Routen
Nach Ansicht der Wissenschaftler spricht ihr Modell dafür, dass die gebirgigen Anteile der Seidenstraße nicht erst mit dem Beginn des Fernhandels entstanden, sondern sehr viel ältere Wurzeln haben. „Die Gebirgsrouten entwickelten sich wahrscheinlich zunächst als Verbindungen über kurze Distanzen entlang der alten Herdenwege“, sagen Frachetti und seine Kollegen. „Diese Wege waren tief im lokalen Wissen über die Landschaft verankert.“
Als dann später der Fernhandel begann, nutzte man diese alten Routen einfach weiter und baute sie in das Verbindungsnetz der Seidenstraße ein. „Unser Modell liefert damit eine alternative Erklärung für die Geografie der Seidenstraße in den Hochlandgebieten – abweichend vom bloßen Verbindungen von Knoten oder dem Prinzip der einfachsten Reise“, konstatieren die Forscher. (Nature, 2017; doi: 10.1038/nature21696)
(Nature, 09.03.2017 – NPO)