Überraschende Erkenntnis: Die riesigen eiszeitlichen Täler im Nordseegrund entstanden innerhalb weniger hundert Jahre – und damit nach geologischen Maßstäben rasend schnell. Analysen zufolge kerbte eiszeitliches Schmelzwasser diese 500 Meter tiefen Täler in den subglazialen Untergrund und bahnte sich so schnell seinen Weg unter dem Eis hervor. Dabei war ein zuvor unbekannter Mechanismus am Werk, der auch für die polaren Gletscher im Zuge des heutigen Klimawandels relevant sein könnte, wie die Wissenschaftler berichten.
Im Jahr 2021 enthüllten seismische Messungen, dass unter dem Sediment des Nordseegrunds tausende riesiger Trogtäler und Kanäle verborgen liegen. Diese bis zu 150 Kilometer langen, mehrere Kilometer breiten und bis zu 500 Meter tiefen Kerben im Untergrund wurden vor rund 20.000 Jahren vom Eis und Schmelzwasser der Eiszeit-Gletscher gegraben. Als es damals wärmer wurde und die Eismassen tauten, kerbte das Schmelzwasser diese Senken in den Grund.
Innerhalb weniger hundert Jahre eingekerbt
Unklar blieb jedoch, wie genau diese riesigen Täler ausgekerbt wurden und wie lange dies dauerte. Das haben James Kirkham vom British Antarctic Survey und sein Team nun aufgeklärt. Für ihre Studie hatten die Geologen die detaillierten seismischen Messdaten vom Nordseegrund weiter ausgewertet und auf Basis eines 3D-Modells und einer Simulation mögliche Entstehungsmechanismen untersucht. „Wir wissen, dass diese spektakulären Täler durch den Todeskampf der eiszeitlichen Eisschilde gebildet wurden“, sagt Kirkham. Jetzt zeige sich, wie dies geschah.
Das überraschende Ergebnis: Die gigantischen Trogtäler entstanden anders als erwartet nicht langsam, im Zuge allmählicher Erosion des Untergrunds. Stattdessen dauerte es wahrscheinlich nur wenige hundert Jahre, bis diese kilometerbreiten und hunderte Meter tiefen Einschnitte vom Schmelzwasser der Eiszeit-Gletscher in den Felsuntergrund gekerbt wurden. Indiz dafür sind geologische Spuren im Nordseegrund, die von der rapiden Bewegung von Eis, Schmelzwasser und erodiertem Material zeugen.
Schmelzwasser-Sturzfluten als Urheber
„Das ist eine aufregende Entdeckung“, sagt Kirkham. Denn in bisherigen Modellen von Gletschern und ihrem Verhalten existiert kein Mechanismus, durch den so tiefe subglaziale Täler so schnell entstehen können. Dies liegt vor allem daran, dass das Verhalten des subglazialen Schmelzwassers bisher erst in Teilen aufgeklärt ist. So lieferten erst 2020 geologische Daten Hinweise darauf, dass eine Mega-Schlucht unter dem Grönlandeis einst durch Schmelzwasser-Sturzfluten geschaffen wurde.
Ähnliches könnte auch unter den eiszeitlichen Nordsee-Gletschern passiert sein. Demnach bildete sich in besonders warmen Perioden so viel Schmelzwasser an der Eisoberfläche, dass dieses als Wasserfall durch den Gletscher in die Tiefe stürzte. An der Gletscherbasis grub sich dieses Wasser riesige Tunnel in den Untergrund, durch die es dann mit hoher Geschwindigkeit ablaufen konnte. Statt sich an der Eisbasis zu stauen und dort ein Wärmereservoir zu bilden, floss das Schmelzwasser dadurch schnell ab.
Relevant auch für heutige Gletscherschmelze
Die rasante Tunnelbildung am Grund der eiszeitlichen Gletscher formte nicht nur die heute noch nachweisbaren Täler und Schluchten im Nordseegrund, sie hatte auch Auswirkungen auf das Verhalten der damaligen Eisschilde. „Durch die Geschwindigkeit, mit der diese gigantischen Kanäle entstehen können, sind sie ein bedeutender, aber bisher ignorierter Mechanismus, der Eisschilde in einer sich erwärmenden Welt stabilisieren kann“, erklärt Kirkham. Denn der schnelle Abfluss des Schmelzwassers kann das Abtauen der Gletscher von unten bremsen.
Damit haben die neuen Erkenntnisse auch Relevanz für die Gletscher und Eisschilde im aktuellen Klimawandel: Auch auf dem Eisschild Grönlands bilden sich im Sommer zahlreiche große Schmelzwasserseen, deren Inhalt sich sturzflutartig in die Tiefe ergießt. „Dieser Prozess und der Wassertransport durch das Gletschersystem wird sich durch die Erwärmung weiter verstärken“, sagt Koautorin Kelly Hogan vom British Antarctic Survey.
„Die entscheidende Frage wird nun sein, ob dieses in den subglazialen Tunneln abfließende Schmelzwasser die Eisströme schneller oder langsamer in Richtung Meer fließen lässt“, so die Geophysikerin weiter. (Quaternary Science Reviews, 2022; doi: 10.1111/bor.12594)
Quelle: British Antarctic Survey