Geowissen

Nordsee: Rätsel der Gruben gelöst?

Forscher finden mögliche Ursache für zehntausende kraterartige Vertiefungen im Meeresgrund

Helgoland
Nördlich von Helgoland gibt es zehntausende rätselhafter Gruben im Meeresgrund. Wodurch sind sie entstanden? © rpeters86/ Getty images

Mysteriöse Senken: Forschende könnten geklärt haben, warum der Meeresgrund der Nordsee von zehntausenden Gruben übersät ist. Bisher galten diese flachen, rundlichen Senken als mögliche Methanaustritte, doch die neuen Analysen deuten auf einen ganz anderen Urheber hin – einen biologischen. Demnach könnten nach Sandaalen und anderer Beute wühlende Schweinswale diese Gruben hinterlassen haben, wie das Team berichtet. Indizien dafür sind die Verteilung, die Entstehungszeiten und die Form der Senken.

Im Herbst 2015 machten Meeresforscher vor Helgoland eine überraschende Entdeckung: Scheinbar wie aus dem Nichts hatten sich dort zehntausende rundlicher, kraterartiger Senken im Meeresgrund gebildet. Diese Senken waren meist wenige Meter groß, manchmal jedoch auch rund 100 Meter und alle schienen innerhalb weniger Monate entstanden zu sein. Auf den ersten Blick ähnelten sie den typischen „Pockmarks„, wie sie durch Methanaustritte aus küstennahen Gashydratvorkommen entstehen.

Auch für die Nordsee-„Pockennarben“ vor Helgoland vermuteten Wissenschaftler zunächst eine geologische Ursache: Sie schrieben das mysteriöse Grubenfeld dem massenhaften Austritt von Methangas aus dem Meeresgrund zu.

Nordsee-Gruben
Beispiele für Gruben am Nordsee-Grund vor Helgoland. © Schneider von Deimling et al./ Communications Earth & Environment, CC-by 4.0

Wodurch entstehen die Nordsee-Gruben?

Seltsam nur: Der sandige Meeresgrund vor Helgoland passt eigentlich nicht zu diesem Szenario. Er enthält kaum organisches Material und auch in tieferen Schichten konnten bisher keine methanhaltigen Flüssigkeiten oder Gase nachgewiesen werden. „Der Austritt von Fluiden wurde bisher nur von der Doggerbank und dem alten Elbebett im nordwestlichen Teil der Deutschen Bucht beobachtet – oder im Rahmen der dortigen ÖL- und Gasförderung“, erklären Jens Schneider von Deimling von der Universität Kiel und seine Kollegen.

Um dem Rätsel der Grubenfelder buchstäblich auf den Grund zu gehen, hat das Team um Schneider von Deimling das Meeresgebiet vor Helgoland noch einmal gründlich untersucht. Dafür werteten die Forschenden Daten hochauflösender Fächerecholot-Messungen aus, die in den letzten Jahren im Nordsee-Gebiet zwischen Sylt und Helgoland durchgeführt worden waren. Zusammen mit neuen Kartierungen des Seesediments deckte diese Kartierung einen gut 2.000 Quadratkilometer großen Teil des Nordsee-Grunds ab.

„Mit speziellen Echolot-Verfahren können wir heute den Meeresboden zentimetergenau vermessen und so die flachen Pits finden“, erklärt Koautor Jasper Hoffmann vom Alfred-Wegener-Institut (AWI). „Wir schauen auch in den Meeresboden hinein und können erkennen, ob dort beispielsweise freies Methangas vorkommt oder eben nicht.“

Keine Indizien für Gasaustritte

Das Ergebnis: „Wir haben in keiner dieser Analysen Hinweise auf freies Gas im Untergrund gefunden“, berichtet das Team. „Auch Indizien für Gasbewegungen im Untergrund wie Kanäle oder ‚Schornsteine‘ konnten wir nicht beobachten.“ Kameraaufnahmen mehrerer dieser Meeresgrund-Senken lieferten zudem keinerlei Hinweise darauf, dass in ihnen methanzehrende Bakteriengemeinschaften oder unter Methaneinfluss gebildete Ablagerungen vorkommen.

„Diese Resultate sprechen dagegen, dass die zehntausenden Gruben am Grund der Deutschen Bucht durch Methanaustritte entstanden sind“, schreiben Schneider von Deimling und seine Kollegen. Doch wie dann? Immerhin bedecken die mysteriösen Gruben rund neun Prozent des Meeresgrunds in diesem Bereich der Nordsee. Nach Schätzungen der Wissenschaftler wurden bei der Bildung dieser Senken insgesamt mehr als 770.000 Tonnen Sediment umgelagert.

Deutliche Unterschiede zu klassischen „Pockennarben“

„Wir mussten eine alternative Hypothese für die Entstehung entwickeln“, sagt Schneider von Deimling. Auf der Suche nach einer anderen Ursache schaute sich die Forschenden die Form der Gruben noch einmal genauer an. „Dabei wurde klar, dass die meisten dieser Senken nicht rund sind, sondern ungleichmäßige Formen und Morphologien aufweisen“, berichten sie. Einige Gruben waren nur halbmondförmig, andere zeigten langausgezogenen Furchen oder unregelmäßig Aufwölbungen in ihrem Inneren.

Auffallend auch: Die Nordsee-Gruben sind deutlich flacher als die aus anderen Meeresgebieten bekannten „Pockmarks“. Statt nach unten kegelförmig zuzulaufen, haben die meisten Senken am Nordsee-Grund einen flachen Boden und sind im Schnitt nur elf Zentimeter tief – unabhängig davon, wie groß diese Grube ist: „Wir haben keine einzige Grube mit mehr als 20 Zentimeter Tiefe gefunden, selbst wenn sie 50 Meter Durchmesser hatten“, berichtet das Team. Auch zwischen der Dicke der Sedimentschicht und Sandauflage bestand kein Zusammenhang.

Das Interessante jedoch: „Ovale Gruben ganz ähnlicher Abmessungen wurden in der Beringsee gefunden. Dort führte man sie auf die Aktivität von Grauwalen zurück, die im Meeresgrund nach benthischen Krebsen suchten“, berichten die Wissenschaftler.

Grubenentstehung
So könnten Schweinswale die rätselhaften Gruben verursacht haben. © Schneider von Deimling et al./ Communications Earth & Environment, CC-by 4.0

Sind wühlende Schweinswale die Urheber?

Könnte es demnach sein, dass auch die rätselhaften Gruben in der Nordsee auf Meeressäuger zurückgehen? Tatsächlich ergaben weitere Untersuchungen, dass die Senken auffällig oft in den Gebieten lagen, in denen Schweinswale nach Nahrung suchen. Dafür tauchen diese Wale zum Meeresgrund, wo sie mittels Echoortung im Sand vergrabene Fische und Krebse aufspüren. Haben sie Beute geortet, wühlen sie den Grund mit ihrer Schnauze auf und saugen die Nahrung ein. Dabei hinterlassen die Meeressäuger flache, unterschiedlich große Senken.

Nach Ansicht der Forschenden könnte dies die mysteriösen Gruben erklären: Die Mehrzahl der Vertiefungen im Nordsee-Grund werden demnach von Schweinswalen bei der Nahrungssuche erzeugt. Eine besondere Rolle könnten dabei Sandaale spielen: Im Schnitt frisst ein Schweinwal pro Tag rund 30 dieser dünnen, bis zu 25 Zentimeter langen Fische. Rechnet man dies hoch, kommt allein für das Studiengebiet eine beträchtliche Menge zusammen: Pro Tag vertilgen Schweinswale dort mehr als 125.000 Sandaale, wie das Team errechnete. „Das demonstriert, dass die Schweinswal-Population in der Nordsee durchaus fähig ist, Millionen solcher Gruben pro Jahr zu erzeugen“, schreiben die Forschenden.

Durch die Gezeiten und die von ihnen verursachten Bodenströmungen werden diese Gruben dann im Laufe der Zeit vergrößert, aber auch wieder eingeebnet. „Unsere hochaufgelösten Daten liefern eine neue Interpretation für die Entstehung von Zehntausenden von Gruben am Meeresboden der Nordsee“, konstatiert Schneider von Deimling. Seiner Ansicht nach könnten auch vermeintliche „Pockmarks“ in anderen Meeren auf solche biologischen Urheber zurückgehen. (Communications Earth & Environment, 2023; doi: 10.1038/s43247-023-01102-y)

Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

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