Der Steinheimer Urmenschenschädel ist etwa 250.000 Jahre alt und zählt zu den bedeutendsten Zeugnissen der Menschheitsgeschichte in Deutschland. Er zeigt Merkmale, die ihn sowohl vom heutigen Menschen als auch vom Neandertaler und vom Homo erectus unterscheiden. Zudem weist der Schädel zwei großflächige Beschädigungen auf, deren Ursachen auch heute, rund 70 Jahre nach seiner Entdeckung, noch ungeklärt sind. Handelt es sich um ein Mordopfer, gab es einen Unfall oder sind die Löcher erst durch die Lagerung im Erdboden entstanden? Nun sollen erstmals Gerichtsmediziner diesen Fragen nachgehen und das Rätsel möglicherweise mithilfe traumatologischer Erkenntnisse lösen.
„Schon bei der Freilegung des Schädels in einer Kiesgrube in Steinheim an der Murr fielen zwei großflächige Beschädigungen am Schädel auf“, erklärt Dr. Reinhard Ziegler vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart, wo das kostbare Fundstück aufbewahrt wird. „Die Verletzungen erstrecken sich auf der linken Seite vom Schläfenbein bis zum Gesichtsschädel und auf der Schädelunterseite im Bereich des großen Hinterhauptslochs“, so Ziegler.
Schon seit dieser Entdeckung machen sich die Forscher Gedanken über die Ursachen dieser Beschädigungen: Sind sie ganz unspektakulär bei oder erst nach der Einbettung des Schädels im Sediment, also auf natürliche Weise entstanden? Oder sind die Defekte zumindest teilweise zu Lebzeiten des Menschen entstanden? Dann wären sie angesichts ihres Umfangs auch die Todesursache des Menschen. Also ein steinzeitlicher Kriminalfall? Was geschah mit dem Toten nach der Tat? Man fand nur den Schädel. Keine Spur vom Rest des Skeletts, trotz sorgfältiger Nachgrabungen. Um dieses Rätsel zu erklären, bildeten sich schon früh zwei gegensätzliche Lager.
Entweder gewaltsam zu Lebzeiten…
So kam der Tübinger Anthropologe Wilhelm Gieseler nach eingehender Untersuchung zu der Überzeugung, dass der Mensch mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurde. Anschließend trennte man ihm den Kopf vom Rumpf und öffnete gewaltsam das Hinterhaupt, wahrscheinlich um an sein Gehirn zu gelangen. „Zu letzterer Schlussfolgerung gelangte er aufgrund ähnlicher Beschädigungen bei Schädeln von Melanesiern, von denen derartige Rituale bekannt waren“, erklärt Ziegler. Und Gieseler erkannte auch die Ähnlichkeit zu Beschädigungen am Neandertalerschädel vom Monte Circeo in Italien, bei dem ein ähnliches Vorgehen vermutet wird.
…oder auf natürliche Weise nach dem Tod
Diese Interpretation ist natürlich nicht unumstritten. So vertraten Tübinger Anthropologen und Urgeschichtler in den 1980er und 1990er Jahren die Ansicht, dass alle Beschädigungen rein natürlich und ohne jegliches menschliche Zutun entstanden seien. Der damals in Tübingen tätige Urgeschichtler Jörg Orschiedt sieht an der linken Schädelseite keinerlei Anzeichen einer zu Lebzeiten oder unmittelbar nach dem Tod entstandenen Manipulation durch stumpfe Gewalt. Für die Substanzverluste an der Schädelbasis schließt er Manipulation durch Menschen als Ursache aufgrund des Fehlens einer trichterförmigen Erweiterung nach innen, von Fissuren oder Terrassenbrüchen aus. Dieser Defekt könnte nach ihm ebenfalls auf natürliche Weise entstanden sein.
Auf der Suche nach des Rätsels Lösung
Neue Untersuchungen des Schädels sollen nun endlich die widerstreitenden Meinungen schlichten und die wahren Ursachen der Beschädigungen klären helfen. „Die Hoffnungen zu einer möglicherweise von allen akzeptierten Klärung zu kommen gründet darauf, dass erstmals gerichtsmedizinische Aspekte und traumatologische Erfahrungen in die Untersuchungen eingehen“, erklärt Ziegler. Denn der in der Gerichtsmedizin der Tübinger Universität tätige Physiker Hans Günter König und Joachim Wahl, Anthropologe beim Landesamt für Denkmalpflege in Baden-Württemberg bringen die nötigen Voraussetzungen mit: Sie haben schon mehrfach gemeinsam an jüngeren Skeletten gearbeitet, wo es galt, die Todesursache herauszufinden. „Man darf gespannt sein, was sie zum Schicksal des Steinheimers zu sagen haben“, fasst Ziegler die hohen Erwartungen zusammen.
(Reinhard Ziegler, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart, 01.09.2006 – AHE)